7. Sonntag n. Trinitatis, 14.07.2024, Stadtkirche, 2.Mose 16 i.A., Jonas Marquardt

Predigt Kaiserswerth 7.n.Trin. – 14.VII.2024                                                                                                       

                  2.Mose 16 i.A.

Liebe Gemeinde!

Es ist ein naheliegender Tag, um über Hunger und Brot zu sprechen.

Heute vor 235 Jahren stürmte die aufgebrachte Pariser Bevölkerung die Bastille, das Sinnbild der Zwangsherrschaft des Absolutismus.

Mit dem Aufbrechen der symbolischen Festung kam die Revolution in Gang, die sich akut zusammenbraute, seit die Missernten von 1787 und 88 die Kornpreise und mit ihnen die schwärende Unzufriedenheit in gewaltige Höhen getrieben hatten. Es waren die auch hierzulande knappen, kargen Jahre, in die die Gründung unserer Gemeinde und der Bau der beiden historischen Häuser links und rechts der Stadtkirche fällt:

Jahre, in denen das Grundnahrungsmittel knapp und kostbar wurde, waren unser Anfang.

Jahre, in denen das Marie Antoinette zugeschriebene Wort vom Hefezopf - der brioche -, den die Armen eben statt Brot essen sollten, wenn sie so arg hungerte, kein mokantes Zitat, sondern echten Schmerz bedeutete.

Jahre, in denen niemand beten konnte, was auch wir beten, ohne ganz anders als wir tatsächlich auch zu wissen, worum man bat, wenn es ums „tägliche Brot“ ging. —

Diese Hungerjahre, in denen das evangelische Kaiserswerth entstand, waren weltgeschichtlich eine Epoche, die mit brutaler Gewalt, aber auch mit Ansätzen zu demokratischer Gesellschaftsordnung, zu ökonomischen Utopien und Theorien und zu materialistischen Philosophien der menschlichen Not zu Leibe rückte.

Es war jene Zeitenwende, die zum ersten Mal eine Lösung der existentiellen Menschheitsfragen suchte, die Gott ausdrücklich ausschloss!

… Dass die Fliedners das drängende Problem der Armut und Verelendung in der Industrialisierung mit einer Mischung aus praktischen und geistlichen Mitteln angingen, dass sie ausbildeten und durchbeteten, war insofern schon eine antirevolutionäre Weichenstellung: Sie erkannten, dass Erziehung und Pflege, gesellschaftliche Fürsorge und persönliche Stärkung von Benachteiligten ungemein dringlich waren, … aber zugleich blieb ihnen die Notwendigkeit göttlichen Beistands vor und in allem Irdischen unerschütterlich gewiss.

… Indes: Dass bloßes Brot, dass bloße leibliche Versorgung den Menschen immer noch in tausend Nöten lässt, ist eine Erkenntnis, die zwar von solchen eindeutig christlich geprägten Kreisen wie den diakonischen Werken des vorletzten Jahrhunderts hochgehalten wurde, sich aber seither je länger, desto mehr verlor.

Wenn alle schließlich Brot und Kuchen hätten, dann wäre alles gut: So haben es die Weltanschauungen des Kommunismus wie des Kapitalismus – beides Kinder der nachfeudalen Welt, die mit dem 14.Juli 1789 begann –, bei allem Gegensatz übereinstimmend gelehrt. Die äußeren Bedürfnisse müssen gedeckt sein. Dafür müssen Revolution oder Produktion sorgen. Dann herrscht nicht nur Wohlfahrt, sondern Glückseligkeit!? …              

Dass das nicht wahr ist, wissen wir.

Man kann im Zucker verschüttet und in Sattheit begraben sein, man kann vor Köstlichkeiten würgen und am Behagen irrewerden: Das wesentlichste aller Bedürfnisse, das tiefste Verlangen aber, wird dadurch nicht im geringsten gestillt …, allenfalls betäubt. … Es bleiben mitten im vermeintlich schönsten Leben ein Loch und eine Leere.

Diese Erfahrung – so alt wie die Menschheit, die nicht nur Sättigungssorgen, sondern auch Seelensorgen hat – … diese Erfahrung, dass der Mensch nicht von Lebensmitteln allein lebt, sondern von dem, was mehr ist als sein Leben, reicht zurück bis zur ersten Revolution, die uns angeht: Dem Exodus, als die versklavten Kinder Israels, mit denen Gott einen ewigen Bund geschlossen hat, endlich die Freiheit atmeten.

Sie trugen keine Ketten mehr, sie waren aus dem erniedrigenden Zwang und der zerbrechenden Fron gelöst und in die Weite der Möglichkeiten, in die offene Welt der Zukunft entrückt worden:

Mit dem Leben davongekommen, sollte Land in Zukunft nicht mehr nur Erdreich für die Backsteine bedeuten, die sie zu fremden Gräbern formten und ihre Muskeln und Knochen sollten nicht mehr bloß die quälenden Befehle anderer ausführen, weil ihre Arbeit und der Boden sie bald selbständig ernähren und ihnen als Werk und Ernte im Segen zugutekommen würden.  

Diese reichen Menschen – zukunftsreich und aussichtsreich – waren aber dennoch leer.

Ihnen – den nachrevolutionären Menschen in einer neuen Welt voller Möglichkeiten – fehlte das Wichtigste.

… Sie meinten, es sei Essen.

Doch es handelte sich um etwas Anderes.

Nicht zufällig begegnen das Murren wegen des Durstes und das Klagen über den Hunger bei den Befreiten, ehe sie am Sinai den durch ihre götzenbilderfordernde Ungeduld beinah vereitelten Bund mit dem Höchsten schlossen. Sie waren frei … also buchstäblich ungebunden, … beziehungslos.

…Solche Beziehungslosigkeit aber reicht nicht.

Sie reichte in der ersten Freiheit damals nicht, und sie reicht in unserer letzten Freiheit heute nicht.

Der Mensch muss nicht nur verdauen, er muss auch vertrauen können. Er braucht nicht nur Zufuhr, sondern Zuwendung, … Brot und Liebe.

Und danach jammerten die Israeliten in ihrem Auf-sich-allein-gestellt-Sein.

Was Gott ihnen aber daraufhin schenkte, ist mit der von der Forschung immer wieder vor-gebrachten armseligen Erklärung, dass auf der Sinaihalbinsel bestimmte Schildläuse Tamariskensaft saugen und ein süßliches Nährsekret dabei absondern, das zu essbaren Kügelchen gerinnt, in gar keiner Hinsicht erläutert[i]. Es geht bei dem, was die Israeliten da von Gott empfangen, nicht um Proteingehalt oder Nährwerte. Ganz deutlich sieht man das am willkommenen Wachtelzug, der als Nahrungsquelle für die Wüstenwanderer zwar viel substantieller war, aber in der theologischen und kunstgeschichtlichen Nachwirkung geradezu bedeutungslos blieb.

Das Wunder des Manna ist nicht, dass es schmeckt und sättigt, sondern dass es die tiefste, unmittelbarste, leiblichste Gestalt der Fürsorge Gottes ist!

Es ist – wie Mose es ankündigt und wie wir es bis zum heutigen Tag und auch in Zukunft nie auch nur annährend dankbar genug begreifen können – tatsächlich ja „Brot vom Himmel“!

Die Wirklichkeit, die keinen Hunger mehr kennt, kommt also zur Erde, um den Sterblichen Leib und Seele zu sättigen!

Das Reich der reinen Freiheit nimmt die Gestalt an, auf die wir angewiesen sind!

Der Ewige nimmt Teil an der völlig vorübergehenden, für uns aber lebensnotwendigen Realität des Stoffwechsels, bei dem Erde Weizen und Weizen Mehl und Mehl Speise und Speise Energie und Energie zur organischen Lebenskraft im Fleisch wird!

Wer darum „Himmel“ und „Brot“ in einem Atemzug nennt, verbindet das Über- mit dem Nichts-als-Irdischen! Wer „Himmel“ und „Brot“ als Ursache und Wirkung zusammenfügt, der bekennt, dass nichts unmöglich, nichts unversöhnlich, nichts unvereinbar ist. …

Wer „Himmel“ und „Brot“ in ihrer Gemeinsamkeit wahrnimmt und annimmt, der steht vor dem Geheimnis, dass „Gott“ und „Mensch“ zuletzt also nicht als Gegenpole, sondern in ihrer Einigkeit gesehen werden sollen.

Himmel und Brot – …

Gott und Mensch – …….

… Nanu? – …………

Ja! … Nanu!

… „Man-hu“? … Was ist das?

Das Manna: Wer ist das? ———

 

Man muss nicht Thomas von Aquin heißen, um bei dieser Frage, die ja eine Antwort ist, andächtig bewegt zu werden.

Wobei es anrührend ist, wie der größte Theologe des Mittelalters, der philosophischste und das heißt begreifens- und begriffsfreudigste Kopf des Abendlandes seinerzeit vor dem Geheimnis des Himmelsbrotes schlicht zum staunenden Dichter wurde:

Gewöhnlich hat Thomas alle Fragen und Antworten, alle Einzelheiten und die Summe der Glaubensreflektion in strenger Systematik durchsiebt, abgewogen und geordnet. Angesichts der Tatsache aber, dass Gott niemals aufhört, dem Sinnhunger, dem Hoffnungshunger, dem Lebenshunger des sonst unerfüllten Menschen Brot vom Himmel zu schenken - in der Eucharistie, im Abendmahl -, konnte und wollte Thomas nicht als Botaniker die Trockenblumen der Theologie sortieren, sondern als Bekenner der unerreichbaren Herrlichkeit dessen, was der seligmachende Schöpfer schafft, einfach singen.

In seinem Lied auf das Sakrament,[ii] in dem er staunend nachbetet, wie die geistige Wirklichkeit Gottes - das Wort - erst Fleisch wird und wie diese irdische Wirklichkeit Gottes - der leibliche Mensch Jesus Christus - dann Brot für die Seinen wird, findet Thomas für das göttliche Wunder des Stoffwechsels ein wunderbares menschliches Organ: Mögen Sinne und Verstand es auch nicht nachvollziehen können, so wird es dem hungrigen Herzen doch gewiss „allein durch den Glauben“. … Tatsächlich: Die evangelische Ur-Losung „sola fide“ beschreibt bei Thomas von Aquin den dankbaren Empfang jenes Brotes, mit dem Gott die Seinen speist! ———

Und diese Glaubensstärkung, diese nur staunend zu erlebende Lebenserfüllung, diesen Genuss dessen, das direkt von Gott in unser Leben kommt, ersehnten und erfuhren die Israeliten im Manna, das sie auf der Wüstenwanderung erhielten … und das sie erhielt. Es ist also kein Zufall, keine Wortspielanekdote, dass das Wunder der täglichen Lebenszuwendung Gottes zu den Seinen mit dem Ausruf fragenden Staunens, mit der mystischen Formel der Unbegreiflichkeit bezeichnet wird: „Man-hu? Was ist das?“

„Was ist das?“

Mit diesem Wundern übers Wunder hebt biblische Offenbarung an.

„Wie ist sein Name?“ (2.Mose3,13) kommt es über Moses Lippen am brennenden Dornbusch.

„Wie heißt du?“, fragt Manoah, Simsons Vater den Engel der Verkündigung (Richter 13,17).

Und dann beim „Ave, Maria“: „Welch ein Gruß ist das?“ lautet die meditierende Frage Mariens im Augenblick, da die Fleischwerdung des Wortes beginnt (Lk.1,29).

Und sie selbst, die Hochbegnadete wird von Elisabeth alsbald begrüßt mit dem Echo dieses Sinnens über dem Geheimnis zart: „Wie geschieht mir, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?“ (Lk.1,43)

Und dann sinkt Paulus unter dem herrlichen Aufstrahlen des lebendig erhöhten Herrn Jesus mitten auf der Hauptstraße des Vorderen Orients in die Knie und ruft: „Herr, wer bist du?“ (Apg.9,5).   

„Was ist das?“

„Wie kann es wahr sein?“

„Wie sollen wir es fassen?“: Die Manna-Frage zieht sich durch alle Generationen und Zeiten, durch alle Schichten und Formen des Glaubens. —

Was ist das, dass Gott auch mitten unter uns wirkt?

Was ist das, dass der unsichtbare, himmlische Gott die Not der Menschheit in ihrem geschöpflich-geschichtlichen Dasein tatsächlich kennt und Selber lindern will?

Was ist das, dass Gott uns das Leben nicht nur schenkt, sondern es uns auch erhält, dass Er uns Leib und Leben mit Sich Selbst erfüllt und durch Sich Selbst errettet?

Täglich, stündlich, immer muss man sich doch wohl so fragen! … Man-hu?!!! ——

… Und deshalb kann man Manna nicht auf Vorrat sammeln.

Man kann nicht im Voraus glauben; man kann nicht für morgen schon die kommende Plage, den Hunger des nächsten Tages überwinden; man kann nicht vorwegnehmen, woran man sich halten und womit man durchhalten wird. Man kann ja auch nicht im Futur lieben oder sich jetzt schon mit der Erfahrung von später, der Weisheit des Alters, dem Trost im Sterben eindecken.

Man kann nur, wie Israel es in der Wüste begann, von Tag zu Tag das, was zum Leben notwendig, was im Glauben bestärkend, was für Leib und Seele hier und dort gesund ist, sammeln und davon zehren.

„Unser tägliches Brot gib uns heute!“

Das ist die von Jesus auf unsere Zungen und in unser Herz gelegte Manna-Bitte: Gib uns das, was wir von Dir auf unserer Wüstenwanderung, bei unserer Lebenssuche, in unseren inneren und äußeren Bedürfnissen und Nöten brauchen … für jetzt.

Wir können’s uns ja nicht selbst geben oder beschaffen. Und wir können uns daran nicht be-reichern oder dauerhaft damit versorgen. Wir bleiben immer angewiesen. ——

Es wäre die wirklich nötige, es wäre unsere christliche Revolution, wenn wir diese bleibende Angewiesenheit lernten und lebten, anstatt uns in, mit und unter so viel Überflüssigem, Unerquicklichem, letztlich nur Mangel und Leid Erzeugendem zu betäuben, zu verheben, zu vernebeln und zu verlieren.

Was wir - und alle Menschen - brauchen, ist das, was wir nicht selbst erzeugen, was wir uns nicht „backen“ und nicht bunkern können: Wir brauchen die Zuwendung Gottes, die uns speisen und buchstäblich zufrieden machen kann, wie sonst nichts.

Wir brauchen also Gottes Wort wie unser tägliches Brot; wir brauchen Jesu Liebe, die den Durst der Welt danach stillen kann; wir brauchen die Kraft des Heiligen Geistes für alles Denken und Tun als Essen und Trinken: Wir brauchen das Brot vom Himmel – das Glaubensstaunen und die wirkliche Feier das Abendmahls! – als tagtägliche Stärkung, Erleuchtung und Nahrung.

Und weil wir uns selbst damit nicht im Vorhinein oder auf lange Sicht eindecken können, genau darum sollen wir es - so frisch und heutig, wie wir davon leben – weitergeben und verteilen: „Sucht Gott! Lebt von Jesus! Sammelt, was der Himmel schenkt!“

Weil so Viele es doch erfahren, dass man Reichliches erleben und dennoch völlig leer bleiben kann, … dass man üppig genießen mag, ohne im mindesten erfüllt zu sein, … dass man alles zu haben scheint, ohne irgendetwas Wertvolles zu kennen, darum lasst uns mit denen, die sonst nirgends Brot finden, dieses rätselhafte Wunder teilen:

Es kommt vom Himmel … und wir wissen nicht: Wie?

Es ist so klein und einfach … und wir können nicht sagen, was einfacher sein könnte?!

Es schenkt und es schafft die Fülle des Lebens … und es ist nicht zu erkennen, wo es enden würde?!

… Man-hu? Was ist das?

… „Es ist das Brot Gottes, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben“ (Joh.6,33)!

Amen.

 

[i] Die Deutsche Bibelgesellschaft steht mit ihren leicht zugänglichen Informationen paradigmatisch für den sog. „wissenschaftlichen“ Ansatz, der (noch dazu in der willkürlichen Auswahl, die die Perikope im Lektionar belegt) am Entscheidenden vorbei geht, vgl.: https://www.die-bibel.de/ressourcen/wibilex/altes-testament/manna-3.

Gewiss ist der Text von Exodus 16 literarkritisch als Produkt vieler Redaktionen, die ganz unterschiedliche narrative, liturgische und theologische Interessen verfolgen, zu erkennen. Das wirkungsgeschichtlich folgenreichste Motiv des „Brotes vom Himmel“ (V.4) allerdings, das auch für das Evangelium vom 7.Sonntag nach Trinitatis – Johannes 6, 30-35 – entscheidend ist, darf dabei nicht aus historisch-kritischen Gründen aus dem Predigttext ausgeschieden werden. Eine biblisch verantwortete Theologie will die Fülle der Traditionen im Kanon und nicht das künstliche Extrakt, das eine bestimmte Forschungsrichtung daraus gewinnt, verkündigen.

[ii] Den Fronleichnams-Hymnus „Pange, lingua, gloriosi corporis mysterium” gibt das Gotteslob (Nr.494) als Schöpfung des Thomas von Aquin wider. Alex Stock fasst die unauflösbare Frage, ob diese Zuschreibung historisch zweifelsfrei aufrechtzuerhalten ist, gut zusammen (in: Ders., Lateinische Hymnen hgg v. Alex Stock, Verlag der Weltreligionen Berlin 20132, S.215f), wobei er zu dem Ergebnis kommt, der Hymnus sei „als Werk des Doctor angelicus (d.h. des Thomas) anzusehen“ (aaO., S.216). Somit ist auch die entscheidende Wendung in der vierten Strophe als Formulierung des Thomas zu werten: „… si sensus deficit, / ad firmandum cor sincerum / sola fides sufficit“.

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