Michaelis, 29.09.2024, Stadtkirche, 4.Mose 22,31 - 35, Jonas Marquardt

Predigt Kaiserswerth Michaelis - 29.IX.2024                                                                                                       

                4.Mose 22, 31 - 35

Liebe Gemeinde!

Gut und gern wäre heute über den sechsten Sinn in der Schöpfung, über das Gefühl der Kreatur, über die Wahrheit, wie nur die Natur sie wahrnimmt, zu sprechen. Gern und gut wäre heute also das Evangelium nach der Eselin zu predigen: Eine rauhe Stimme dieser Welt, die den Boten und die Botschaft der größeren und feineren Welt Gottes bekennt.

Aber bevor wir die hellhörige Aufmerksamkeit und nüchterne Demut der stockenden, bockenden Eselin preisen, die Bileam rettete (vgl.2.Petrus2,15f), den käuflichen Verflucher Israels, der im Auftrag der Moabiter das Volk des Exodus durch Bann und Zauber an seiner weiteren Wanderung hindern sollte, … bevor wir also das Lob des Langohrs singen, stimmen wir besser einen Klagegesang an auf uns Bileamiten.

… Uns, die weder sehen noch hören, weder bremsen noch umkehren, wo Cherubim und Seraphim, wo Throne und Herrschaften, Mächte, Gewalten und Fürstentümer, wo Erzengel und Engel unsern Weg säumen und unser Leben begleiten.

Reden wir also nicht von der gesegneten Eselin, sondern über uns.

Ganz praktisch:

Wer kennt den Namen des Briefträgers? Wer dankt dem Busfahrer? Wer bemerkt, dass geputzt wurde und dass sie in der Notrufzentrale die ganze Nacht über gewacht haben? Wer weiß Näheres über die Lebensgeschichte und die Lebensträume der 24-Stunden-Pflegekraft, die im Elternhaus mehr ersetzt, als man selbst hätte leisten können? Wer sieht noch das Gesicht der Hebamme, die damals die eigenen Kinder zu entbinden half? Wer ahnt heute schon, wer’s sein mag, der uns einmal waschen und einsargen wird, wenn wir gestorben sind?

Wir leben so blick- und wortlos inmitten der Hilfe, die uns umgibt.

Tausende Hände und Augen, tausende Dienste und Taten gelten uns – von der kleinen Teepflückerin im Himalaya bis zu den bald fast 5000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr Brigade in Litauen –, und wir scheren uns nicht drum.

Dank- und grußlos lassen wir uns schützen und erhalten.

Und haben dabei eine Kultur der Unzufriedenheit, des schamlosen Anspruchs und der ausbeuterischen Selbstverständlichkeit entwickelt, dass es zum Fürchten ist.

Wir sind eine Gesellschaft der Angewiesenen geworden, die sich selbst nicht Rechenschaft darüber gibt, wie sie an keiner Stelle aus eigenen Kräften, sondern allein dank fremder Hilfe lebt: Erziehung und Pflege, Hüten und Heilen erwarten wir anonym und billig, obwohl sie das Kostbarste und Heiligste betreffen.

… Kein Wunder also, dass wir Niedergang erleben.

… Die Bibel weiß darum, dass das ein Gericht ist.

Und kein Wunder, sondern das klarste Symptom, dass auch unsere Kirche und d.h. ja wir selbst so ganz und gar vergessen haben, ja bestreiten wollen, wie sehr auch wir als Glaubende und im Glauben auf andere Dienste und die Unterstützung Dritter angewiesen sind! … Glaube als Privatangelegenheit?! … Gott als individuelle Meinungssache?! …

Die selbstherrliche Arroganz, dass wir in solchem allen unabhängig und Alleinversorger seien, ist ein lächerlicher Ausdruck unserer kollektiv bloß vorgetäuschten Selbständigkeit.

Wir allen säßen nicht hier, wir würden nicht essen oder trinken, nicht atmen und singen, nicht beten noch fühlen, wenn wir nicht bei Tag und Nacht, als Säugling ebenso wie auf dem Sterbebett, in aller Not und aller Gewöhnlichkeit treu und still umgeben wären, … behütet und getröstet wunderbar (vgl. EG 65,1).

Wir leben davon, dass wir Schutzengel haben (vgl. Matth.18,10) und dass Gottes Dienstengel (vgl.Ps.103,20f) zwischen Seinem und unserm Dasein, zwischen Gebeten und Geboten, zwischen uns Fraglichen und Fragwürdigen und Dem, Der auf alle Wahrheit und Lüge und jeden Zweifel und Zorn und auch auf unser Schweigen die einzige Antwort ist, unablässig hin- und her vermitteln.

Wir sind frei, aber nicht uns selbst überlassen.

Unsere Existenz ist nicht haltlos - selbst im Fall -, sondern in tieferer Tiefe umfangen und an höhere Höhen geknüpft, als wir ahnen.

Boten und Wächter, Zeugen für Gottes Herrlichkeit und Beistände in unserer Niedrigkeit sind unsichtbar, unzählbar, unerschöpflich um uns herum.

Sie erfüllen nicht etwa alle unsere Wünsche, aber unfehlbar den zuletzt heilsamen Willen Dessen, Der uns liebt.

Denn sie bringen uns Seinen Segen: Die Abrahamserfahrung (vgl.1.Mose18).

Sie führen uns zu unserm Glück und Ziel: Die Isaakserfahrung (vgl.1.Mose24,7+40).

Sie erfüllen auch die Trostlosigkeit unserer Durststrecken und Sorgennächte: Die Jakobserfahrung (vgl. 1.Mose28).

Sie geleiten uns noch auf unseren überstürztesten, improvisierten, irrenden Lebenswegen: Die Moseserfahrung (vgl.2.Mose14,19).

Sie strafen unsern Übermut und lenken uns zur Umkehr: Die Davidserfahrung (vgl. 2.Samuel24,16ff).

Sie schenken den Erschöpften Kräfte: Die Eliaerfahrung (vgl.1.Könige19,5ff).

Sie rüsten unsre Schwachheit mit ihrer flammenden Klarheit aus: Die Jesajaerfahrung (vgl.Jes.6).

Sie stehen uns bei in letzter Bedrängnis: Die Danielerfahrung (vgl.Dan.6,23).

Sie überwinden Zwang und Hindernisse vor uns und versetzen uns in Freiheit: Die Petruserfahrung (vgl.Apg.12,7ff).

Sie trösten Jesus in Seiner blutigen Not (vgl.Lk.22,43), und ohne sie wären Sein Leben, Seine Auferstehung und Erhöhung niemals verkündet und geglaubt worden: Die Mariaerfahrung (vgl.Lk.1,26ff), die Magdalenaerfahrung (vgl.Matth.28), die Apostelerfahrung (vgl.Apg.1,10f).

Und so geleiten und hüten sie uns nicht nur immer schon und jetzt, sondern sie stehen uns allen auch bevor, wenn sie uns einst entweder in Abrahams Schoß tragen (vgl.Lk.16,22) oder die letzte Posaune, das Ende des Vergehenden, den Anbruch des Reiches und damit das große, endgültige Zurechtbringen der ganzen Welt einläuten werden (vgl.1.Thess.4,16; Matth.25,31; Dan.12,1ff; Offenb.12,7ff; 16; 18,21ff; 19,17ff; Heb.12,22).

Diese kurze Skizze der biblischen Engelfülle vom verwirkten Paradies am Anfang, über das sie wachen (vgl.1.Mose3,24), bis zum neuen Paradies am Ziel, das sie offen halten werden (vgl.Offenb.21,12), soll uns zeigen, dass die Himmelsboten und -kräfte weder in den kindlichen Volks- und Aberglauben, noch in die pantschende Esoterik gehören, sondern in unser Leben und Bekenntnis, … und es wäre gewagt, aber wichtig deshalb auch zu sagen: Die Engel gehören in unser Weltbild als persönliche, konstante Präsenz, als konkrete, treue Gegenwart der Macht und Liebe Gottes.  ——

Wichtig und gut wäre das, und gut und gern könnte man dann über die Engel und uns nachdenken.

… Aber leider sind wir Bileamiten. Keine Esel.

Hätten wir die lauschenden Langohren, … witterten wir, statt immer zu wissen, … läge uns störrische Demut und nicht der eigentlich so unsichere demonstrative Stolz im Wesen: Dann wäre es gut mit den Engeln und mit uns.

In Wahrheit aber ist es oft ganz furchtbar. Denn wir reiten durch alle Engel, die sich zu unserm Schutz um uns lagern (vgl.Ps.34,8), hindurch wie Attilas Hunnen. Wir trampeln die Heerscharen des Himmels nieder; wir walzen die Mächte und Gewalten platt, die durch ihr Hüten und Wirken das Weltgebäude doch im Lot und Gleichgewicht halten sollen.

Denn davon spricht ja die natürlich hochpolitische Geschichte Bileams, seiner Eselin und des Engels. Wie alles, was die Bibel enthält, die das Manifest der Gottesherrschaft in der Freiheit Seiner Kinder und der Friedensplan des Höchsten ist, … wie alles also, was die Bibel enthält, ist die Geschichte Bileams, den die Feinde Israels als Stimmungsmacher gegen das Volk Gottes, als Blender und Herabwürdiger Seines in die Zukunft aufgebrochenen Sklavenhaufens gedungen hatten, hochpolitisch. So hochpolitisch wie es natürlich auch die himmlischen Heerscharen, die „Zebaoth“ - also die Sanitäts- und Solidaritäts- und Rettungs- und Eingreiftruppen - des HERRN sind und so hochpolitisch allen voran Michael ist, der stärkste und entscheidende Anti-Satans-Aufklärer und -Kämpfer, den wir heute besonders feiern.

Michael und sämtliche Kräfte Gottes – die Engelscharen, in denen alle Macht im Himmel und Erden für das, was Gott geschaffen hat und gegen den Feind des Lebens, der Gerechtigkeit und der Liebe sich verbünden – sind unsre größte, unsre letzte und unsre allesentscheidende Hoffnung in diesen Zeiten der Verwerfung, der Verzweiflung und der entfesselten Vernichtung.

Wäre der Kampf – der gute Kampf, den es zu kämpfen gilt (vgl.1.Tim.6,12), der Kampf für das Evangelium des Friedens, der mit dem Schild des Glaubens, dem Helm des Heils und dem Schwert des Geistes zu führen bleibt (vgl.Eph.6,13ff) – nur Menschenwerk, … stellte er uns bloß vor die Alternative der neuen Putin’schen Atomkriegsstrategie und der notwendig militärischen Verteidigung gegen das wilde Wolfsrecht, … ließe er uns nur zerrissen zwischen dem teuflischen Terror der Hamas und Irans gegen Israel und Israels unerträglichem Anti-Terror-Terror, … wäre also das, was wir auf der Weltbühne mit Entsetzen sehen und entsetzlicherweise nicht hindern können, einfach alles, dann wäre alles verloren.

Nun aber ist Gottes Kampf, der Michaelskampf gegen den Drachen (vgl.Offenb.12,7f/Judas V.9!) und in ihm gegen die Gottesfeindschaft des brüllenden Teufels (vgl.1.Petrus5,8), gegen die eiskalte Teilnahmslosigkeit der Menschheit (vgl.Matth.24,38) und gegen den erbarmungslos ausnahmslosen Gottes- und Menschenfeind Tod (vgl.1.Kor15,26) wahrhaftig die zentrale Hoffnung unserer Tage!

Weil es aber tatsächlich ein Kampf der Hoffnung ist, ein Kampf für das Leben, ein Kampf, der auf Gottes Seite geführt wird und der uns fordert, uns zu stellen und einzureihen, darum müssen wir wählen: Entweder wir sprechen wie in den Tagen des Jesaja die Bürger Jerusalems „Wir haben mit dem Tod einen Bund geschlossen und mit dem Totenreich einen Vertrag gemacht. Wenn die brausende Flut daherfährt, wird sie uns nicht treffen; denn wir haben Lüge zu unsrer Zuflucht und Trug zu unserm Schutz gemacht“ (Jes.28,15) – Sätze, die als der Kommentar des Heiligen Geistes zu unserm Heute zu verstehen sind – oder wir lösen uns aus unseren erklärten und verschwiegenen Todesbündnissen und folgen den Boten Gottes.

Das aber ist schwer.

Doch zum dritten und letzten Mal kommen wir nun an den Engpass des Bileam. Bileam, der seine Eselin zwingen wollte, genauso wie wir gegen alle Warnzeichen einfach unbeirrbar weiterzustreben, musste schließlich absteigen und umkehren.

Weil ein Engel ihm den Weg verstellte.

So wie sich die Engel Gottes auch gegen unsere selbstmörderische Denk- und Lebensrichtung stemmen. So wie sie sich gegen uns lagern, … als Wegelagerer an unseren Wegrand lagern, … als Gegenlager gegen unsere Geschwindigkeit der Selbstzerstörung sperren, … als heilige „Hinderer“ wie Martin Buber hier übersetzt, … als allzu oft unsichtbarer, aber doch ernster und eindeutiger Widerstand gegen so vieles, das wir verfolgen und nicht lassen können.

Und jeder merkt, wie hier das Hochpolitische höchstpersönlich wird.

Weil jeder von uns weiß, wie oft wir gegen den Engel, den der HERR uns als Hinderer schickt, brutal und stumpf zugleich vorgehen: Wir machen weiter, obwohl unser Weg ins Verderben führt. Wir halten nicht ein, obwohl wir sündigen und schuldig werden. Wir bremsen nicht, wir werden nicht langsamer, wir kehren nicht um.

Da muss gar nicht das Bild von den mittlerweile wieder entmutigten oder radikalisierten jungen Leuten beschworen werden, die sich auf die Straße und die Rollbahn klebten.

Da muss sich jeder von uns nur auf jedem Weg, bei allem Tun und wenig Lassen vor Augen halten, dass wir die Engel niedertrampeln, die uns vor der Gier und vor der Selbstsucht, vor der Hartherzigkeit und vor der Kurzsicht, vor der Lüge und vor der Selbsttäuschung bewahren wollen.

Jedes Mal, wenn wir gegen die Moral und unser Gewissen verstoßen, … jedes Mal, wenn wir gegen klare Einsicht bloß aus dem Geist der Trägheit handeln, … jedes Mal, wenn wir die Gelegenheit zu Vernunft und Verzicht aus Gedankenlosigkeit ausschlagen, … jedes Mal, wenn wir einfach weitermachen und die schwierigere Änderung im Kleinen oder Großen meiden, … jedes Mal kränken, missachten, verstoßen und verletzen wir den Engel, der unser Begleiter ist.

Und darum können wir nur hoffen – und weil es um den Kampf der Hoffnung geht, auch dafür kämpfen –, dass wir den feinfühligen Esel in uns spüren, der bockt, wenn wir den eignen groben Willen durchsetzen wollen und der die heilige Scheu und kreatürliche Ehrfurcht vor den Engeln, den Zeugen und Boten und Dienern Gottes auf unserm Weg und in unserem Herzen hat.

Die, die wir heute feiern, … die, die uns täglich treu und still umgeben und heilsam hartnäckig hindern und wunderbar bergen, die wollen wir ehren, indem wir uns mit Luthers Morgensegen jetzt und immer wieder wappnen gegen den Eigensinn und Hochmut des autonomen Egoisten und stattdessen an der Seite der Eselin und des beschämten Bileam, der so blind war wie wir, beten (vgl. EG 863):

„Himmlischer Vater, durch Deinen lieben Sohn bitte ich Dich, Du wollest mich behüten vor Sünden und allem Übel, dass dir all mein Tun und Leben gefalle.

Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in Deine Hände.

Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde!“

Amen. 

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