2.Advent, 08.12.2024, Stadtkirche, Jesaja 35, 3 - 10, Jonas Marquardt

Predigt Kaiserswerth 2.Advent - 8.XII.2024                                                                                                        

                    Jesaja 35, 3 - 10

Liebe Gemeinde!

Der berühmte rheinische Katholik Joseph Beuys hat den Satz geprägt: „Ich denke sowieso mit dem Knie“.

Vielleicht meinte er damit die rheinische Wendigkeit, die ein solches Gelenk ermöglicht, weil die Steifbeinerten nur geradeaus zu marschieren vermögen und Spurwechsel, Um-die-Ecke-Biegen oder Umkehren lächerlich wirken, wenn man nicht federn, schwingen und seitwärts ausweichen kann. Vielleicht meinte er aber auch gut katholisch, dass man sich nur durch das Knien in seiner Demut, in seiner Bedürftigkeit nach Gnade, in seiner Selbstrelativierung vor Wichtigerem ausdrücken kann.

Auf alle Fälle ist ein Leben ohne Lockerheit und ohne Kniebeugen menschlich und geistlich arm: So scheint es mir jedenfalls, der ich derzeit auch mit dem Knie denke. Weil es mich da zwickt, spiele ich das alte Gesellschaftsspiel der Frommen, die in der Vergangenheit immer schon ihre eigenen körperlichen Schmerzen als Verbindung mit andern, wichtigeren Schmerzerfahrungen betrachteten. Sie haben ihren Hunger und Durst, ihr Fiebern oder Frieren, ihre Krankheiten und Gebrechen immer als ein Stück Gemeinsamkeit mit dem großen Schmerzensmann der Bibel oder seinen Vorgängern und Nachfolgern im Leid empfunden.

Es gibt schließlich auch im Weh genau wie im Wohlergehen ein Miteinander, das sich vertieft, wenn man spürt, was andere spürten oder was sie erwartet.

Wenn also mein Knie mich derzeit ärgert, zuckt mir die bis auf die Knochen gehende Erniedrigung und Ermattung der Versklavten in Ägypten, der Verschleppten in Babylon durch Mark und Bein. Und wenn es richtig arg ist, wird eine noch andere Passion lebendig, die Einen traf, der im Garten Gethsemane auf seine Knie fiel und auf der Straße nach Golgatha unter meinem Kreuz, das Er zu tragen hatte und an dem sie Ihm die Beine brachen, in die Knie ging. …….

Mit dem Körper zu denken, kann also den Geist durchaus verständiger und empfänglicher machen.

Und wenn wir in der Solidarität des gemeinsamen Glaubens, in der Mystik des einen Leibes Christi mit dem Körper Anderer zu denken übten, dann würde unser Hoffen und Lieben zweifellos um entscheidende Dimensionen echter, menschlicher und drängender!

Doch wer von uns, den nicht gerade irgendeine eigene Irritation piesackt, denkt sich in die praktische Erfahrung der Angeschlagenen und Gemütskranken, der Blinden und Tauben und Lahmen und Stummen hinein, die der Prophet heute als die tatsächlichen Adressaten und Empfänger des Evangeliums vom kommenden Erlöser anspricht?!  

Gewiss: Wir reden von Inklusion und haben ein entferntes Bewusstsein von den Einschränkungen und Kränkungen, die leidet, wer vor seelischer Ausgebranntheit nicht aus dem Bett oder wegen seiner Armut nicht aus der Wohnung kommt oder mit seinem Rollstuhl nicht die Treppe runter oder mit seinen Panikattacken nicht unter die Leute kann; wir ahnen etwas von der Einsamkeit derer, die nicht kommunizieren oder mühelos auffassen können, was geschrieben oder gesagt wird; wir können ein wenig vielleicht nachfühlen, wie rücksichtslos das wirkt, was uns an Fähigkeiten oder Berechtigungen selbstverständlich ist, und wie zermürbt die sind, denen man ansieht, was wir verstecken oder anhört, was wir verschweigen können: Unsicherheit, Mängel, Selbstzweifel, organische Hindernisse und unbewusste Hemmungen.

Aber in der Haut der wirklich Ausgegrenzten, der wirklich tief Beeinträchtigten, der wirklich Anders-Geschaffenen, -Begabten und -Gewordenen stecken die meisten von uns nicht.

Doch diese Haut – mit allen offenen Wunden, Verletzungen und Narben, mit allen Nadelstichen und selbst zugefügten Ritzungen – … diese Haut ist es, in die Der kommt, Den Jesaja den Kaputtgemachten und Verlorengegangenen als ihren Gott ankündigt! 

Das weiß Jesaja damals natürlich noch nicht so klar, und auch wir nach zweitausend Jahren Weihnachten haben es bis heute noch nicht klar und nüchtern begreifen und bekennen wollen!

Jesaja – wenn er die große, endgültige Heilsbotschaft ankündigt: „Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott!“ – … Jesaja kann bei diesen überwältigend trostreichen Worten nicht an ein verdrecktes Kind in löcherigen Windeln in einem Trog denken und noch weniger an einen Gefolterten, den sie nackt durch die Straßen von Jerusalem treiben, um ihn auf der Müllkippe abzumurksen. … Aber wir stehen ihm in unserer hartnäckigen Begriffsstutzigkeit unter Garantie in Nichts nach: Oder erwarten wir tatsächlich einen Streetworker des Himmels, einen göttlichen Rettungssanitäter, einen messianischen Blauhelm-Friedenseinsatz, einen Menschenrechtsheiland, einen Christus der Suppenküche und einen stellvertretenden Bringer von Gerechtigkeit und Freiheit auf dem Straßenstrich und bei den Drogendealern?

Warum erwecken wir denn mit unserer Art, die Erwartung - den Advent - zu begehen, eigentlich doch eher den Eindruck, Er komme, um Gemütlichkeitsnoten und Preise fürs Plätzchenbacken zu verteilen? Warum wirkt es bei mir und bei vielen anderen eher so, als erwarteten wir den Erlöser zum Kaffeekränzchen bei Kerzenschein und Hausmusik und müssten unsre Privaträume deshalb trendfarbig oder traditionell herausputzen?

Warum ist der Advent – biblisch recht eigentlich die Zeit der himmelschreienden Erlösungssehnsucht! – die Hochkonjunktur der Idylle unter uns?

… Nichts gegen den Duft von Bienenwachs und den Geschmack von Christstollen! Nichts gegen strahlende Schwibbögen und andere geschmackvolle Illumination in Tannengrün und Kunstschneeglitzern.

… Aber die sind ja nun allenfalls für uns und unseresgleichen eine indirekte Erinnerung an das wohlig rieselnde Leben und das gefahrlose Dasein, das der Prophet der Erlösung für die in der Wüste und der Wüstenei einer allseits lebensfeindlichen, lebensbedrohlichen Wirklichkeit ankündigt!

Wenn wir ein wenig verstehen und begreifen wollen, was die Botschaft dieser Tage – der Tage der realen irdischen Not und der ebenso realen Hoffnung für die Notleidenden – ist, … wenn wir ein wenig spüren und in uns aufnehmen wollen, was die Botschaft dieses zukünftigen Heiles ist – eines Heiles, das den wirklich Gezeichneten, den physisch und psychisch wirklich Gequälten wirkliche Linderung und Lösung bringt –, … wenn wir einen Hauch, einen Herzschlag, eine Handvoll dessen erfahren wollen, was der weltweite Horizont ist, vor dem wir in den Adventswochen stehen, weil alles auf den Umschwung, auf die Befreiung, auf den Durchbruch der totalen Verwandlung von Horror zu Heilung wartet, ……. wenn, wenn, wenn es uns - wie Gott! - um mehr als Trallala geht, dann müssen wir die Zone des Sentimentalen und des Gemütes verlassen und müssen völlig körperlich wahrnehmen!

… Mit fremden Körpern denken …

Gott und das Trauma der Folter in Russland, das im kaltem Schweiß und in Hypertonie und Herzrasen ihrer Opfer weiterlebt: In diese Spannung und was der Eine für das andere bedeuten könnte, müssen wir uns einzufühlen versuchen.

Die beinah betäubungslos Amputierten von Gaza – ihre dauerhafte Schädigung, ihre brutal abgerissenen Lebenschancen – und Gott: Das ist der Widerspruch und Zusammenhang, den wir ahnungs-, aber darum auch gänzlich schonungslos auf uns wirken lassen müssten.

Die Frustration eines Lebens, dem sich überall Barrieren entgegenstellen, und die Wirklichkeit der grenzenlose Liebe Gottes, … die Verletzung eines stigmatisierten oder auch nur übersehenen Andersseins und den Zuspruch der vollkommenen Gnade, … die Müdigkeit derer, die an sich oder anderen immer wieder scheitern, und die ohne Verdienst ausgegossene Hilfe Gottes, … die vollständige Ohnmacht des ungeborenen Lebens, dessen Tötung man in diesen Wochen vor Weihnachten von Unrecht zu Recht erklären will, und die ewige Treue Gottes zu jedem einzelnen Seiner Geschöpfe, … alle diese wunden Punkte und himmelschreienden Schmerzen und Brüche in der Menschheit sind die psychosomatische Landschaft und Körperlichkeit, in der Gottes Ankunft erwartet wird.

Diese krass organisch gedeutete, diese medizinisch gelesene Landkarte der Welt, in die der Advent Gottes steuert, findet eine eindrückliche Bestätigung, eine Authentifizierung in jener unvergleichlichen Bibelübersetzung, die unter grausamsten Krankheitsbedingungen geschaffen wurde: Franz Rosenzweig war durch ALS vollständig gelähmt und eingemauert bis auf wenige noch möglich Mundbewegungen; schließlich aber blieb ihm nur noch das Diktieren durch die Zuckung seiner Augenlider, deren Wimpernschläge einen Buchstaben-Code ergaben. In seiner unter solchen Märtyrer-Qualen gemeinsam mit Martin Buber verfassten Übersetzung des Propheten Jesaja lautet die große Adventsfanfare des herannahenden Heilers aller Gebrechen:

„Erschlaffte Hände stärket,

festiget wankende Knie,

sprecht zu den Herzverscheuchten:

Seid stark,

fürchtet euch nimmer,

da: euer Gott,

Ahndung kommt,

das von Gott Gereifte,

er selber kommt

und befreit euch!“                   

Gottes kardiologische Kur durch Angstüberwindung, … Seine befähigende Physiotherapie an den Händen, die nichts mehr ausrichten, den Gelenken, die nichts mehr standhalten können, … Seine stärkende Behandlung der entmutigten und entmündigten und entkräfteten Menschheit gipfelt in dem wunderwirkenden Schockmoment eines lauten und unerwarteten: „Da: Euer Gott!“

Wer diesen Impuls der tatsächlichen Gegenwart Gottes durch alle Glieder fahren spürt, … wer erlebt, wie diese Stimulation der gelähmten Hoffnung, des abgestorbenen Glaubens, der erkalteten Liebe durch Mark und Bein strahlt, weil Gott wirklich da ist, weil Er tatsächlich nicht jenseits, sondern hier erscheint und nicht körperlos, sondern mit einem Körper, ja in einem Körper anwesend ist und handelt und hilft: Den packen die Kräfte der Wiederherstellung, die bei Luther „Rache“ und bei Rosenzweig „Ahndung“ genannt werden und die in beiden Fällen keine juristische Kategorie bezeichnen, sondern den Vorgang, von dem das allerschlichteste Abendlied singt: „Deine Gnad und Jesu Blut / macht ja allen Schaden gut“ (EG 484,2)!

Gottes Advent ist also wie in allen Wunderheilungen Jesu auch eine durch Ihn ausgelöste körperliche Reaktion gegen die Minderung und Zerstörung der menschlichen Lebenskraft. Gottes Advent wird einst den Triumph der Abwehrkräfte bedeuten, die die gesamte Menschheit gegen den Tod braucht. Gottes Advent wird – wenn er sich vollständig und unendlich erfüllt hat – das ausbreiten und übertragen und zu umfassender Entwicklung bringen, was bei Rosenzweig und Buber als „das von Gott Gereifte“ begegnet.

Von dieser - treffenden - Übersetzung her ergibt sich nun aber ein faszinierender Ausblick darauf, weshalb wir immer wieder Advent feiern, obwohl sich die körperliche Ankunft Gottes, seine leibliche Gegenwart damals und seine leibliche Präsenz auch heute noch bei uns im Sakrament doch längst vollzogen haben und vollziehen. …

… Der Heiland ist ja schon gekommen.

Der Himmel und Erde in Ehrfurcht versetzende Ruf „Seht, da ist euer Gott!“ ist in staunenden, rätselhaften, geheimnisreichen Variationen über den Fluren Bethlehems (vgl. Lk.2,11), aus der Höhe überm Jordan (vgl. Joh.1,34), aus der Wolke am Berg der Verklärung (vgl. Mk.9,7), ja sogar am Fuß des Kreuzes von Golgatha (vgl. Mtth.27,54) lautgeworden.

Weshalb also begeben wir uns immer wieder neu in die Erwartung, weshalb erfahren wir uns immer wieder dennoch als Harrende und Hoffende, weshalb singen und beten wir, wie Jahrtausende und Jahrhunderte vor uns schon Jesaja und Friedrich von Spee  (vgl. EG 7) auch heute noch „O Heiland, reiß die Himmel auf! – Wo bleibst Du, Trost der ganzen Welt?“ 

Der Blick auf unsere eigenen, aber mehr noch der Blick auf die Körper der anderen beantwortet es uns: Weil wir Menschen immer noch die Müdigkeit und Hinfälligkeit, die Hilfsbedürftigkeit, zuletzt auch immer noch die Sterblichkeit mit uns herumschleppen, die schließlich am Ziel aller Advente behoben und vergangen sein werden.

Die umfassende, allen zuteilwerdende Heilung und Wiedergutmachung, von der der Prophet spricht, sind noch nicht universal.

Die Verwandlung der dürren und immer mickriger kümmernden Natur in grünende Fruchtbarkeit und unverbrüchlichen Frieden ist noch nicht erreicht.

Die Sicherheit in unserer zutiefst verunsichernden Welt ist noch nicht eingetreten.

Krankheit, Verschmachten und Mord sind noch immer real. ――

… Doch wir Christen können und müssen das andere ebenfalls bezeugen: Gottes Gegenwart in einem anfälligen, durstigen und tödlich verletzbaren menschlichen Leib ist tatsächlich noch viel realer … weil um so vieles wunderbarer!

Die Verheißung des Advent, der den Menschen Genesung und Gedeihen bringen wird, hat sich in der Menschwerdung Gottes erfüllt.

Und seit Jesus gekommen ist, seit das Heil, das in Ihm ist, sich auf die, die Er berührte oder die nach Ihm fassten, heilend übertrug, wächst die Verheißung des Advent weiter.

Jeder Menschenkörper ist letztlich ja ein Gefäß, eine Form, die endlich dazu bestimmt ist, aufzunehmen, was da von Gott her, durch Seine Menschwerdung an unzerstörbar Gutem reift.

Gewiss: Wir wissen nur allzu schmerzhaft – auch wenn wir so selten wirklich mit den Körpern der Anderen denken, fühlen, fiebern und mitleiden –, dass nicht jeder Mensch hier durch Wunder- und durch Glaubenskraft wiederhergestellt wird.

… Aber noch viel gewisser ist kein Leben und auch kein Sterben mehr heillos, seit Gott in die Realität gekommen ist! Auch wenn „noch manche Nächte fallen auf Menschenleid und -schuld“ (vgl. EG 16,4), ist der heilige Weg doch unumkehrbar eröffnet, auf dem sämtliche Lebenden und sämtliche Gestorbenen als die Erlösten des HERRN wiederkommen und in Zion jauchzend ewige Freude erfahren werden.

Dann werden Schmerz und Seufzen entfliehen und vom Scheitel bis zur Sohle, innerlich und äußerlich werden wir sein, was der Prophet als die Verheißung, die von Gott her reift, uns allen zusagt: Stark und fest, gesund und getrost, sehend, hörend, leichtfüßig und lobend.

Die Menschwerdung Gottes wird sich in der Heilung jedes einzigen Menschen vollenden.

Und dann wird es am Ziel nur noch heißen: „Da!“

Und wird nur noch sein: Gott!

… Und wir ganz heil und vollständig in Ihm!

Amen.

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