3.Advent, 15.12.2024, Stadtkirche, Römer 15, 4 - 13, Jonas Marquardt

Predigt Kaiserswerth 3.Advent - 15.XII.2024                                                                                                      

                      Römer 15, 4 - 13

Liebe Gemeinde!

Wenn ich „Qumran“ sage oder „Masada“, dann steht einigen die gleißende Landschaft im Südosten Israels vor Augen, wo am Rand der Wüste Juda, in den Felsen überm Toten Meer die Reinigungs- und Erneuerungsbewegung, die das Volk Gottes in römischer Zeit ergriffen hatte, ihre buchstäblichen Hochburgen besaß:

In der asketischen Gemeinschaft des endzeitlich-gläubigen Judentums von Qumran bereitete man sich rigoros geheiligt auf das nahe herbeigekommene Reich Gottes vor. Und in der thronenden Festung, in der einst Herodes sich luxuriös abgeschirmt hatte, behaupteten sich die letzten stolzen, freien Kämpfer des alten Israel mit Kind und Kegel gegen die Armee Roms, bis sie schließlich frei nur noch in ihrem gemeinschaftlichen Tod sein konnten.

Östlich unterhalb von beiden aber - von Qumran und Masada - floß in die salzige Lake des Toten Meeres das Wasser des Jordan, in dem Johannes einst gestanden und wiedergeborene Menschen, die sich durch Umkehr dem Untergang hatten entgegenstemmen wollen, in die Flut getaucht und aus ihr herausgerissen hatte. Das Kind, vom dem wir eben im „Benedictus“ gebetet haben, dass es die Füße der Leute auf den Weg des Friedens richten sollte (vgl. Lk.1,79), hatte als wilder Mann die Bußbewegung ausgerufen, die im Judentum der Zeitenwende eben in der Luft lag. Der Zorn, den Johannes predigte, hatte in vielen berührbaren, pharisäischen Herzen Staub aufgewirbelt, … den Staub der Gewohnheit und der Sünde, der im Jordan abgewaschen wurde. Die Herzen der romhörigen Herodianer und Sadduzäer dagegen waren noch härter gebrannt worden in der Glut der täuferischen Erregung.

Und dann kam Gottes Lamm selber, das die Sünde der Welt trägt (vgl. Joh.1,29) hinab an den Strom, an dem sich die Geister scheiden sollten, und die Stimme vom Himmel (vgl. Mk.1,11) und der Geist aus der Höhe (vgl. Lk.3,22) troffen in den Jordan und seine geheiligten, seine messianisch angereicherten Wasser strömten weiter nach Süden, …. vorbei an den stillen Höhlenklöstern der Heiligen von Qumran, vorbei an der späteren Bastion des jüdischen Kampfgeistes, an Masada, wo Märtyrerblut floss, ohne dass jemand in Feindeshand fiel.

Es ist also trotz der hellen Wüstensonne ein finsterer Verlauf, den der Jordan nimmt: Das selbe Wasser, in das Jesus eintauchte, um sein Sterben und Auferstehen vorwegzunehmen, … das H2O, in dem die Offenbarung des fleischgewordenen Sohnes Gottes vor der Welt sich vollzog, strömte an Stätten vorbei, die erlöschender Erwartung und vergeblicher, furchtbar fehlgeleiteter Gewalt den Rahmen bieten würden. ——

 

Paulus wird das bedacht haben auf seiner einsamen, rätselhaften Reise in die Wüste, nachdem er in Damaskus vom Lichtglanz und von der überwältigenden Liebe des selben Jesus umflossen worden war, der im Jordan wie alle anderen Menschen unterging, um den ewigen Untergang aller Menschen aufzuhalten (vgl. Gal.1,17)[i].

Als er nach seiner Bekehrung, Taufe und Berufung auf die arabische Halbinsel zog, wo er - für uns in tiefstes Geheimnis gehüllt - Dinge erlebte und Wahrheiten erfuhr, die ihn zum Apostel aller Völker machten, … damals ist auch Paulus in größerer Nähe oder Entfernung zu den Fluren des Jordanlandes ins Schweigen der menschenleeren Gefilde gewandert. Und je tiefer er in die den Einsiedlern und Mystikern, den Visionären und den Asketen vorbehaltene Endlosigkeit des arabischen Sandes zog, desto stärker muss der Jordan, den er im Rücken hatte, ihm in den Ohren geklungen haben.

Vielleicht wanderte der Schriftgelehrte Saulus, der als Hassender plötzlich ganz unverdient die Liebe des gekreuzigten Messias hatte erblicken dürfen, durch Transjordanien ja mit den ihm wohl vertrauten Worten des 42. Psalms:

„Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, /

so schreit meine Seele, Gott zu dir. /

Meine Seele dürstet nach Gott, / nach dem lebendigen Gott. /

Wann werde ich dahin kommen, / dass ich Gottes Angesicht schaue? /

Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir, /

darum gedenke ich an dich /

aus dem Land am Jordan und Hermon, /

vom Berge Misar. /

Deine Fluten rauschen daher /

und eine Tiefe ruft die andere /

alle deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich …….“

Natürlich sind wir hier im Reich von Spekulation und Phantasie, weil niemand je erfahren hat, was dem neu getauften, eben noch geblendeten Saulus in der Arabia widerfuhr, wo er zum Missionar der Heiden, zum mutigen Erstlingsverkünder weltweiter Erlösung und Versöhnung durch den Messias heranreifte.

… Natürlich ist alles, was wir über seine Inkubation und seine Exerzitien mutmaßen können, legendenhaft: Doch wann wäre das angemessener als jetzt im Advent, der Zeit des erwartungsvollen, herzklopfenden Grübelns und Wünschens und des hellhörigen Wachens durch die Nacht hindurch dem Licht entgegen?!

… Natürlich hören wir jetzt, im Advent also die Flöhe husten, die Engel singen und das Menschenherz seine Geschichten erzählen; und in der totalen Verschwiegenheit, die Paulus über seine ersten Lehr- und Wanderjahre in abgeschiedenster Gottesnähe wahrte, flüstert sich mir wie von selbst die Legende ein, dass er im grandiosen Verstummen der Wüste das Rauschen des Jordan im Ohr behielt, wo Jesus den Dienst der Erlösung durch die buchstäbliche Erniedrigung in den Graben antrat, der zum tiefsten Punkt der Erdoberfläche führt. … Und ich kann mir nicht helfen, sondern muss mir vorstellen, dass er dabei auch dieses bei den Mystikern seit jeher beliebteste Wort des Psalms mitschwingen hörte: „Eine Tiefe ruft die andere“ …. „abyssus abyssum vocat“, wie Hieronymus übersetzt. 

Paulus in Arabien, in der Phase seiner intensiven Meditation nach der Berufung durch Jesus hat also erlebt, was er am Ende des Römerbriefes festhält: „Was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben.“  

Was aber ist denn der Trost der Bibel des Paulus, … der Trost des fälschlich sog. „Alten“ Testaments? Was ist der Trost, den Paulus die Schrift durchgrübelnd und durchforschend in der menschenleeren Einöde fand, wenn er auf den weit entfernten und tiefen Jordan lauschte, in dem das Taufwasser des Erlösers durch die ganz unerlöste Welt floss, in der damals wie heute sonderbare Heilige und brutale Unheilige alle Ufer besetzen?

Was hat Paulus bewegt, der gewusst haben wird von den zahlreichen Spannungen zwischen den zurückgezogenen Qumran-Frommen am Toten Meer und seinen schriftgelehrten pharisäischen Mitbrüdern, die in Jerusalem den Messias erwarteten, und den rebellionsschmiedenden Zeloten in Galiläa und den Aposteln Jesu in der Heiligen Stadt, am See Genezareth und sogar in Damaskus, die den gekommenen, in den Himmel erhöhten Messias liebten und ehrten und inbrünstig schnellstens zurückwünschten und dann den überall misstrauischen, Weltfrieden-herbeifolternden Römern? …

Und was bewegt nun uns, wenn wir uns nur den Verlauf jenes Jordan vergegenwärtigen, dessen drei Quellen im erschütterten, vielleicht verheißungs-, vielleicht verhängnisvollen Raum des syrisch-libanesischen Hermongebirges - der Golanhöhen - entspringen und dessen kostbares Wasser die Siedler im Westjordanland den palästinensischen Landwirten und Olivenbauern so zynisch vorenthalten, und dessen Fließrichtung zur Mündung im Toten Meer die Blicke über den Trug unserer Urlaubserinnerungen an Eilat hinweg noch weiter südlich unerbittlich in Richtung des Grauens im Sudan, des Horrors im Jemen, des Unheils im Iran lenkt? …

Was bewegt uns, wenn wir in diese Welt blicken, in der ein Abgrund dem anderen zuruft?

Rufen die Abgründe der Welt, die Abgründe der gegenwärtigen Zeitgeschichte einander nicht permanent „Wehe! Wehe!“ zu?

Rufen nicht alle Ströme der Erde: „Wir vertrocknen und mit uns die Wälder und mit ihnen die Menschheit?“

Rufen nicht alle Ufer und alle Gräben und alle Meere: „Nichts fließt so viel wie Blut? Nichts bedeckt uns bald so wie die Flüchtlingsströme? Nichts tragen wir so in alle vier Winde wie Gewalt und Zerstörungswut?“

Rufen die Abgründe nicht schier Abgründiges in den Weltraum hinaus, obwohl unten im Jordangraben einst der Christus seinen lebensrettenden Dienst für alle Kreatur antrat, indem er sich beugte unter die Wasserwogen und Wellen, die über das Leben gehen? ……. ——

 

Doch dem Paulus ist ein anderer, noch tieferer Ton als das Brausen der Sintflut in der Schrift begegnet: Die Tiefe aller Tiefen, der Abgrund aller Abgründe ist das, den Paulus im Römerbrief schon einmal wortwörtlich hat hören lassen, als er das Rätsel der Spannung zwischen Juden und Christen und der Auflösung dieser Spannung durch die gemeinsame Erlösung meditiert hat. … Da singt er (Rö.11,33):

„O welch eine Tiefe des Reichtums, /

beides der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! /

Wie unbegreiflich sind seine Gerichte /

und unerforschlich seine Wege!“

Und das ist nun tatsächlich der Ur- und Grundton des Weltalls. Es ist der grundlose Ursprung, der im Wasser des Jordan fließt, wo Christus sein Erlösungswerk begann, und der in jedem einzigen von uns weiterfließt bis ins ewige Leben (vgl. Joh.4,14 + 7,38).

Dieser Urgrund, dieser Abgrund ist erfüllt von der Wahrhaftigkeit Gottes in Seinen Verheißungen für Israel; dieser Abgrund, dieser Urgrund ist erfüllt von der Barmherzigkeit Gottes gegenüber allen Völkern.

Tiefer als alle Not, tiefer als alles Leid, tiefer als alle Angst, tiefer als aller Schmerz, tiefer als aller Hass, tiefer als alle Zerstörung, tiefer als der Tod, tiefer als die Hölle, tiefer als das Ende, tiefer als das Nichts, tiefer als Alles ist dieses unauslotbare, unbegrenzte, anfangs- und endlose Mysterium der tiefen, tiefen, übertiefen Liebe Gottes.

Das ruft der Abgrund den Abgründen zu. ——

 

Es gibt dazu eine Melodie, die wir jetzt nicht singen werden, weil ich dann heulen müsste: Von ihr erzählt man sich - in noch einer Legende -, sie sei am rauen Strand von Wales nach einem Sturm in einer schmutzigen Flasche an Land gespült worden. Zu dieser Melodie aus der Tiefe gehören in England Worte, die einem depressiven jungen Mann eingegeben wurden, als er sich in einer winterlichen Nacht auf der verlassenen Hungerford Bridge verzweifelt in die dunkle Thames stürzen wollte[ii].

Sein Rettungslied geht so:

 

O the deep, deep love of Jesus, vast, unmeasured, boundless, free!
Rolling as a mighty ocean in its fullness over me!
Underneath me, all around me, is the current of Thy love
Leading onward, leading homeward to Thy glorious rest above!

 

O the deep, deep love of Jesus, spread His praise from shore to shore!
How He loveth, ever loveth, changeth never, nevermore!
How He watches o'er His loved ones, died to call them all His own;
How for them He intercedeth, watcheth o'er them from the throne!

 

O the deep, deep love of Jesus, love of every love the best!
'Tis an ocean vast of blessing, 'tis a haven sweet of rest!
O the deep, deep love of Jesus, 'tis a heaven of heavens to me;
And it lifts me up to glory, for it lifts me up to Thee!

 

(Samuel Trevor Francis, 1834 – 1925)

 

************

 

O, die tiefe Liebe Jesu, / riesig, maßlos, endlos, frei,

wie ein Ozean so strömt sie / völlig über mich herbei.

Unter mir und um mich strömt die / Liebe mächtig wie die See

und sie führt mich vorwärts, / heimwärts zu der Ruhe in der Höh.

 

Preiset Jesu tiefe Liebe / alle Ufer, hin und her,

weil er liebt, nur liebt - und niemals / wandelt sich die Liebe mehr.

Er bewahrt die Seinen, die Er / durch den Tod fest an sich band;

Er vertritt sie und Er birgt sie / treu in der erhöhten Hand.

 

O die tiefe Liebe Jesu! Keine Liebe ist wie Du:

Wie ein Meer aus reinem Segen, / wie der Hafen reiner Ruh!

Jesu tiefe, tiefe Liebe! / Himmelreich: Das bist Du mir!

Denn Du trägst mich zur Vollendung. / Ja, Du trägst mich heim zu Dir!

 

(Übersetzung: J.M.)

 

Und dieses Lied aus der Tiefe von der schier abgrundtiefen Liebe zu allen, allen, allen – zu Juden und Heiden, zu Freunden und Feinden, zu Fernen und Nahen – … das ist es, was dem Paulus in der Einsamkeit, fern aller Zivilisation und also aller Schrecken aufging.

Diese abgrundtiefe Liebe ist es, zu der er alle rufen wird, nachdem er an Masada und Qumran vorbei erst nach Jerusalem zurückkehrte und dann von dort zu allen Menschen - auch zu uns! - aufbrach.   

In der Schrift - in der Torah und den Psalmen und Propheten[iii] - , die er in der ohrenbetäubenden Stille studierte, in der Schrift, von der die tiefsten Geheimnisse der Schöpfung und der Offenbarung überfließen, fand er, dass alle einträchtig und einmütig und in einem gegenseitigen Einvernehmen, das einzigartig ist, zu Lob und Freude und Hoffnung zusammengerufen werden, weil es diese Harmonie ist, die Jesus Christus entspricht.

Und so ist das eine Wort, das aus dem Abgrund steigt und überm Abgrund steht und in die Unergründlichkeit der Ewigkeit weist, das Wort HOFFNUNG, das Paulus aus seiner Entfernung von allem hinein in die ganze Welt trug.

Wir haben einen gemeinsamen Gott – wir zersplitterten und zerstrittenen, wir zerstreuten und zerfallenden Menschen und Völker und Glaubensweisen – … wir haben einen gemeinsamen Gott, Der über alles Trennende und Unversöhnliche und Unerlöste hi-weg mit Seiner Liebe das Volk Israel und alle anderen Völker – Palästinenser und Syrer, Ukrainer und Russen, Uiguren und Chinesen – zum Frieden führt!

Das ist das die Untiefen erfüllende, die Geschichte vollendende, die Ewigkeit aus- und ausdehnende Geschenk, das wir im Advent erfahren und feiern: Dass über allem die Hoffnung herrscht!

Denn so ruft’s ein Abgrund dem andern zu und so dürfen auch wir weiter und weiter bitten, dass der Gott der Hoffnung uns erfülle mit aller Freude und allem Frieden im Glauben und wir immer reicher werden an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes!

Amen.

 

[i] Die kryptische Notiz über seinen Aufenthalt in Arabien lässt wenig über die innere Entwicklung, bzw. Prüfung und Vergewisserung ahnen, die sich dort vollzogen haben müssen. Deutlich ist aber, dass der Apostel diese Zeit des vollkommenen Rückzugs als die Grundlage der Freiheit seiner Heidenmission empfand. Er muss also zu einer Klärung und Klarheit gekommen sein, die den Weg des Evangeliums zu allen nicht-jüdischen Menschen fundamental geprägt haben. Dass die Predigt das geographisch-spekulativ mit dem transjordanischen Terrain, durch das er reiste, verknüpft, verdankt sich dem Proprium des 3.Adventssonntags, an dem der Täufer und dessen Vorboten-Mission in beinah allen Schriftlesungen mittelbar im Zentrum steht.

[ii] Vgl. dazu https://gospelreformation.net/o-the-deep-deep-love-of-jesus/.

[iii] Der Predigttext ist ein besonders vollendetes Beispiel für die (rabbinische) Hermeneutik des schriftgelehrten Paulus, der durch Sammlung und Verknüpfung von Belegstellen aus dem gesamten Tenach (hebräische Bezeichnung für das Corpus aus Torah, Propheten und Psalmen) die Verkündigung des Evangeliums als „gemäß der Schrift“ begründete. In der Perikope aus Römer 15 sind deshalb bewusst Zitate aus dem 5.Buch Mose, den Psalmen und dem Propheten Jesaja verbunden, um zu zeigen, dass alle 3 Teile des alttestamentlichen Kanon dem Ziel der paulinischen Heidenmission – die Akzeptanz einer Juden und Nicht-Juden verbindenden Christus-Gemeinschaft zu schaffen – eine unumstößlich Basis bieten.

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