Altjahrsabend, 31.12.2024, Stadtkirche, Jesaja 51, 4 - 6, Jonas Marquardt

Predigt Kaiserswerth Altjahrsabend 2024                                                                                                             

                   Jesaja 51, 4 - 6

Liebe Gemeinde!

Was auf uns zukommt, können wir aus dem verstehen, wo wir herkommen.

Anders gesagt: Wenn wir nicht vergessen, wo wir waren, müssen wir nicht fürchten, wo wir sein werden.

Beide Sätze sagen – so inhaltlich unbestimmt sie zunächst scheinen –, dass es heute nicht um Angst gehen kann.

Es wird auch nicht um unsere Sorgen gehen. Sie waren 366 Tage lang ernst und groß und werden es bleiben. … Aber die Kriege und Erschütterungen, die Grausamkeit und der Wahn unserer Zeit, die uns nicht nur äußerlich vor Augen stehen, sondern auch innerlich längst zeichnen, sind keineswegs die Nachrichten, für die wir sie halten. Sie sind vielmehr ein furchtbar durchgängiger Puls der Geschichte. Weil die Menschheit schlicht und ergreifend immer wieder und allüberall durch derartige Leiden und Schmerzen hindurchmusste. Punkt.

„Durch viel Trübsal müssen wir in das Reich Gottes eingehen“, ist einer der ältesten Grund-sätze der paulinischen Missionspredigt (Apg.14,22), den er zuerst den neu gewonnenen Gläubigen auf der türkischen Seenplatte im Taurusgebirge auf die Seele band. … Dort gibt es seit Jahrhunderten keine Christen mehr. Aber wenn sie nicht vergaßen, wo sie herkamen, dann müssen wir gewiss nicht fragen, wo die Schwestern und Brüder aus Pisidien und Pamphylien nun wohl seien.

Wir aber tun darum nun auch nichts Sinnvolles, wenn wir uns beim Rückblick und beim Ausblick auf die Bedrängnisse und Gefahren unserer Gegenwart fixieren. – Wohlgemerkt: Sie sind ernst und ernst zu nehmen. Achselzuckende Gleichgültigkeit, tatenloser Fatalismus sind uns verwehrt, wann immer irgendein anderer Mensch durch unsere Selbstsucht leidet oder durch unsere Hilfe gestützt und bewahrt werden könnte: Wir sollen lieben mit allen unseren Kräften und sämtlichen Mitteln. … Aber eben nicht in Furcht leben!

…Denn die alte persische Inschrift اين نيز بگذرد (īn nīz bogzarad) - „Auch dieses geht vorüber“ gilt für allen Kummer, alle Dunkelheit, allen Terror und Horror ebenso wie für alle Freuden!

Doch gerade wenn wir den Sog der Auflösung, die Kräfte des Verfalls und die zerstörerische Wirklichkeit der Zeit erleben, stellt sich die Frage nach dem, was dem Strudel der Vernichtung trotzt?

Jesaja hat für die aufgeschreckten Seelen seiner Zeitgenossen, die den Untergang alles dessen erfahren hatten, was für sie heimatlich und heilig war, die denkbar knappsten, stärksten Antworten: Was trotzdem und trotz allem unvergänglich ist, was zukunftssicher, was unmittelbar und bleibend ist, das sind die Worte und Maßstäbe Gottes, das sind Sein Heil und Seine Arme … also die geistig-geistliche und die praktische Herrschaft und Hilfe des Höchsten, selbst wenn die irdische Welt in apokalyptisch-plötzlicher Entledigung ihrer selbst vergeht!

Das Verrauchen[i] und die blanke Durchlöcherung der Welt und das massenhafte Sterben der Lebendigen sind schon bei Jesaja keine Bilder oder Metaphern gewesen: Seine Gemeinde in Babylon hatte den Qualm des lichterloh brennenden Tempels und die Staubwolke überm Schutt Jerusalems zeitlebens vor den tränenden Augen, sie hatten am eigenen Leib erfahren, wie nackt man dasteht, wenn die äußerliche Sicherheit unterm Mottenfraß des Unerwarteten verschwindet, und das plötzliche Auslöschen einer ganzen Zivilisation und Kultur im Tod brachte ihnen, den Übriggebliebenen im Exil ein längeres Überlebensleid als den durch Nebukadnezzars Schlächter Dahingerafften.

Wir reden also von Realität und nicht von trüben Stimmungen oder dumpfen Befürchtungen, wenn wir uns das Ziel der Trostbotschaft Jesajas vergegenwärtigen.

Jesaja hübscht und hellt keine schlechte Laune auf. Er spricht die völlig Vernichteten an! Und er versorgt sie nicht mit Parolen, sondern er weckt sie auf zur Wahrnehmung einer ganz anderen, einer ihrem Heute radikal entgegengesetzten Wirklichkeit.

Diese Wirklichkeit hat auch bei Jesaja einen Namen ……. obwohl er das nicht weiß. Er verwendet, um die Lähmung, die Hoffnungslosigkeit und Todesangst seiner Gemeinde zu durchstoßen, das Wort für Freiheit, Lösung und Heil, das am wirkungsvollsten die Rettung der völlig Ausgelieferten bezeichnet: Es ist der Begriff „Jesus“.

„Mein Jesus tritt heraus, mein Jesus kommt hervor“, ist also die Botschaft des HERRN durch den Mund Jesajas. Und sie gipfelt in unserm Predigtabschnitt in der Verheißung: „Mein Jesus bleibt ewiglich und das, was Meine Gerechtigkeit tut und ist, geht nicht unter!“

Dass Jesus hervorkommt und dass Er bleibt: Das und nichts anderes ist demnach die mitten in der Apokalyptik der Welt unerschütterlich gepredigte, beglaubigte, beherzende und behaltene Botschaft, von der wir herkommen.

Wir kommen ja buchstäblich her von diesem „Mein Jesus kommt heraus“-Fest, das wir Weihnachten nennen. Es war genau vor einer Woche, dass wir es - wie ernsthaft und bewusst auch immer - gefeiert haben. … Doch mit hoher Wahrscheinlichkeit haben wir alle den Fehler gemacht, zu dem alle unsere Feste uns in unserer gegenwärtigen Denkweise verleiten. Wir begehen sie als Jubiläen, als Wiederkehr eines historischen Tages.

Wenn wir zunächst nicht diese am Rückblick haftende Perspektive hätten, würde ja auch die Zählung sinnlos, nach der heute um Mitternacht das 2025. Jahr nach dem Weltgeschichte-machenden Ereignis der Geburt Christi beginnt.

Und trotzdem fragt sich, ob wir der Heilsgeschichte in der geschichtlichen Wirklichkeit der Welt gerecht werden, wenn wir sie historisch auffassen.

Dass es 2024 Jahre seit Christi Geburt sind, ist eine letztlich irrtümliche Verflachung, … eine Verfälschung. Es sind in Wahrheit ja nicht 2024 Jahre seither vergangen, in denen Christus eben nicht zur Welt kam, sondern es waren bisher über zweitausend Jahre, die erfüllt wurden durch seine Geburt!

Was wir mit den Worten von Arno Pötzsch gesungen haben[ii], ist gerade keine irgendwie sentimentale Dauerweihnachtsstimmung, sondern das Bekenntnis, dass wir in einer von Christi Geburt hervorgebrachten, in einer durch Christi Geburt unwiderruflich, weil für immer veränderten Wirklichkeit leben. 

In den nüchternen und darin umso sensationelleren Worten des 1.Johannesbriefes (1,2), die die „Mein Jesus tritt hervor“-Botschaft des Jesaja aufgreifen, heißt es da ganz mystisch-unmystisch, ganz real-transzendent einfach: „Das Leben ist erschienen und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist.“  

Wenn Christen die Zeit zählen, die Jahre nummerieren und die Übergänge zwischen den entsprechenden Ziffern zelebrieren, ist das also der Bezugspunkt: Wir werden um Mitternacht m.a.W. ein Salut, ein weithin vernehmliches Echo, in Wahrheit wohl aber eine überwiegend ahnungslose Bestätigung von zweitausendundvierundzwanzig Jahren ewigen Lebens an jedem Ort und auf dem ganzen Erdkreis erleben.

„Das ewige Leben ist erschienen“: Dieses Signal als Schlusspunkt des verstörenden Jahres, das wir verabschieden?! … „Das ewige Leben ist erschienen“: Diese Fanfare als Eröffnung des kritischen Jahres, das uns bevorsteht?! – Das ist eine Zeitrechnung und Wahrnehmung, ein Lebensgefühl und eine Weltanschauung, die nur christlich denkbar und verständlich sein können … wenn sie auch viel weiter wirksam sind.

……. Wirksam wie?

Im Reich Gottes gibt es keinen Datenschutz. – Darum erzähle ich von einer Erfahrung, die zu machen ich im Herbst das Privileg hatte und die mir heute besonders vor Augen steht.

Morgen hätte ich nämlich - trotz grotesken Unvermögens - auf einem hundertsten Geburtstag mit der Jubilarin getanzt, weil ich es versprochen hatte.

Nun tanzt sie mit besseren Tänzern: … Hoffentlich den selben Engeln, die Heinrich Seuse beim seligen Reigen sah, als ihm das wunderbare Weihnachtslied „in dulci iubilo“ eingegeben wurde[iii], das uns dieses Jahr in der Gemeinde auch so traurig-trostreich zum frohen Singen bei einer Beerdigung gebracht hat.

Als die beinah Hundertjährige im Sterben lag, hat sie ihre gespannte Hand immer wieder einmal in meine offengehaltene gelegt. Vielleicht lag es daran, dass ich so deutlich wie noch nie - was ja keinesfalls neu oder überraschend ist - bezeugen kann, was da geschieht: Es war die gleiche, im Herannahen hochkonzentriert erwartete und dann immer wieder naturhaft schmerzliche Macht, die die längst nicht mehr Sprechende oder zur Kommunikation Geneigte da ergriff, die ich als dummer Zuschauer und schwacher Beistand aus dem Kreißsaal kenne. Diese Macht ergriff sie, hielt sie ganz auf das Geschehende gewandt in Atem, zitterte abklingend nach. Es ist das eben ohne jeden Zweifel eine zweite, eine endgültige Geburt, deren Wehen und deren Ziel wie bei derjenigen am Anfang sind: Stark und unheimlich und ungeheuerlich … das Leben bereitend. … Nur dass wir, wenn wir eins dem andern dort die Hand stützen, nicht die Gebärende, sondern das Menschenkind an der Schwelle des beginnenden Lebens berühren. ——

Das ist die tiefe, unauslöschliche, wahrhaftig noch nicht zu Ende gedachte, gebrachte und geglaubte Botschaft, die uns eigentlich prägen müsste: Wir kommen als Christen her von der Geburt des ewigen Lebens, und wir gehen auch unter den Wehen des Sterbens, unter den Schmerzen des Todes immer nur weihnachtlich hinein in dieses ewige Leben!

Wenn wir das ahnen, … wenn wir das nach diesen acht Tagen nicht vergessen, sondern auch morgen und im kommenden Jahr die Zeit erfahren als bestimmt vom Zusammenziehen und Pressen, von den vorbereitenden und begleitenden Nöten eines Durchgangs in das, was Jesaja verkündet – „Mein Jesus, Meine lebenermöglichende Gerechtigkeit bleibt für immer“ –, … wenn wir das nicht vergessen, sondern so erfahren, dann müssen wir uns vor dem, was kommt, vor der Zukunft und ihrem Ziel gewiss nicht fürchten!

Der in seinem Anstand und seiner tiefen Frömmigkeit rührende hundertjährige ehemalige Präsident der USA, Jimmy Carter[iv], der am vorgestrigen Sonntag verstarb, hat das in jeder seiner Friedensmissionen, in seinem weltweiten Hausbau-Projekt für die Bedürftigen - “Habitat for Humanity” - und schon in seiner Amtszeit, in der er den Materialismus zugunsten der Sehnsucht nach wirklichem Sinn infrage stellte, veranschaulicht: Christen, die wissen, wo sie herkommen, haben keine Sorge, was das Ziel ihres Daseins betrifft.

In seinen bis zur Erschöpfung aller Kräfte durchgehaltenen Sonntagsschulstunden aber hat Carter das so schlicht, wie man es nur sagen kann, immer wieder ausgesprochen:

“… (M)y Christian faith includes complete confidence in life after death. So I’m going to live again after I die – don’t know what form I’ll take or anything like that, but I have confidence that there is a God and he’s all powerful. That he keeps his promises and that his promise is life after death.”[v]

Eine andere christliche Altjahrs- oder Neujahrsbotschaft, eine andere Alltags- oder Weihnachtsbotschaft, einen anderen Grund des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe gibt es nicht: Das Leben ist erschienen! Dort kommen wir her, wenn wir von der Krippe kommen, und dort gehen wir hin, wenn wir das Irdische verlassen und durch alle Wehen und Trübsale dieser Zeit den Himmel erreichen.

Nicht umsonst singen wir das Jahr für Jahr mit den Worten eines Mannes aus der Todeszelle. Dietrich Bonhoeffer, dessen robuste Zuversicht auch das Wunder des zeitlichen Überlebens nicht ausschloss, wusste doch genau, was er vor 80 Jahren seiner Mutter zu ihrem gestrigen Geburtstag und seiner Braut für die in ratloser Offenheit liegende Zukunft schrieb.

Eine Zuversicht beschreibt der zum Tode verurteilte Bonhoeffer in seinem vermächtnishaften Gedicht, die voller Geburtsmotive ist:

Mit den Mächten, die treu und still umgeben, behüten und trösten zitiert er ja geradezu Paul Gerhardts Gesang zum Jahreswechsel (EG 58,4): „Denn wie von treuen Müttern / …  die Kindlein hier auf Erden / mit Fleiß bewahret werden“

Geborgenheit wie bei und in der Mutter ist also das Grundmotiv des ersten und des letzten Verses, und doch verharrt der Christenmensch in seiner Anfechtung und seiner Hoffnung nicht darin – wie wir uns gern in der Sicherheit und Sorgenfreiheit eingerichtet hätten –, sondern er glaubt und wagt sich zuversichtlich durch alle Qual zu seiner Bestimmung, durch alle Bitterkeit zum Licht der Sonne, durch alles Einander-auch-Verlieren-Müssen zur Gewissheit der Gegenwart Gottes auch in der Nacht durch.

Und dann mündet das Lied in jenem „kinderhohen“ Lobgesang, den das neue Leben wie ein Säugling von sich gibt, weil Gott in aller Erwartung und erst recht nach aller Erwartung bei uns ist … gut biblisch: „am Abend und am Morgen“ … und dann an jenem Lebenstag, mit dem das Lied …, nun: „endet“ kann man ja nicht sagen, sondern vielmehr ewig wird.

Das waren ja Bonhoeffers Worte im Augenblick der Hinrichtung: „Dies ist das Ende, für mich der Beginn des Lebens“[vi]. ——

Und das ist es – jetzt, nach Weihnachten, … jetzt an der Schwelle eines neuen Jahres voll der Wirklichkeit der ewigen Geburt –, … das ist es, wo wir alle herkommen und was auf uns alle zukommt: Das in Jesus erschienene Leben!

Denn wie Jesaja es im Namen des HERRN als Verheißung über alle Generationen ausspricht (vgl. Jes.51, 8): „Mein Jesus bleibt ewiglich!“

Amen.

 

[i] Wunderbar übersetzen Buber und Rosenzweig: „Rauchgleich verfledern die Himmel, / gewandgleich muß die Erde zerfasern, / einem Mückenschwarm gleich müssen ihre Insassen sterben …“.

[ii] Im Gottesdienst wurden als Rahmung der Epistel des Sonntags nach Weihnachten – 1.Johannes 1, 1 – 4 – zwei herbe Weihnachtslieder von Arno Pötzsch gesungen, Besonders dem zweiten – „Wir hielten an der Krippe Rast“ – verdankt die Predigt ihr Grundmotiv. Darin heißt es: „So beugt sich’s schon jahrtausendlang / beschwert zur Krippe nieder, / und immer ward zum Heil der Gang, / gesegnet immer wieder. // Hier gibt Gott Ende und Beginn / von einem Jahr zum andern: / Von Weihnacht her auf Weihnacht hin / ist gottgetrostes Wandern.“ Zitiert aus: Arno Pötzsch, Mensch in Gottes Fährte, Geistliche Gedichte und Lieder, Hamburg-Bergstedt 19614, S.66.

[iii] In Heinrich Seuses (ca.1297 - 1366) Lebensbeschreibung wird eine Vision geschildert, in der Seuse in den Tanz der Engel einbezogen wird, die ihm sagen: „… er sollte seine Leiden aus den Sinnen schlagen und ihnen Gesellschaft leisten, und er müßte auch himmlisch tanzen mit ihnen. Sie zogen den Diener  (i.e. Heinrich Seuse) bei der Hand zum Tanz, und der Jüngling (i.e. der Deuteengel der Vision) fing ein fröhliches Gesänglein an von dem Kinde Jesus, das lautet also: in dulci iubilo usw.“ (Heinrich Seuses Deutsche Schriften [hgg. v. Walter Lehmann], Erster Band, Jena 1922, S.19)

[iv] Vgl. dazu https://www.nytimes.com/interactive/2024/12/30/us/carter-on-death.html?smid=nytcore-android-share

[v] https://www.eternitynews.com.au/good-news/fragile-in-body-jimmy-carter-confident-about-living-after-death/

[vi] Vgl. die Schilderung von Payne Best, zitiert nach: Ferdinand Schlingensiepen, Dietrich Bonhoeffer 1906 – 1945: Eine Biographie, München 2005, S.390.

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