Judika, 06.04.2025, Stadtkirche, Johannes 18,28 - 19, 5, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Judika - 6.IV.2025
Johannes 18, 28 – 19,5
Liebe Gemeinde!
Lange hatten wir sie verdrängt, aber jetzt beherrscht sie alles und wir müssen sie uns und uns ihr - wohl oder übel - stellen. … Stellen wir also die alles beherrschende Machtfrage nach der alles beherrschenden Macht. Die Frage, die den Fischer aus dem Pisspott so antrieb, dass er durch „Mantje! Mantje! Timpe Te!“-Beschwörungen auf- und auf- und aufstieg … angeblich, weil „syne Frau, die Ilsebill“ das so dringend wollte.
Wer ist der Mächtigste?
– Ist der der Mächtigste, der in der großen Stunde der Befreiung, die ein goldenes Zeitalter des Wohlstands und der Macht einläuten sollte, die unbewohnte norwegische Insel Jan Mayen im Polarmeer, die fiskalisch vermutlich dem König von Thule untersteht, und die McDonalds Islands in der antarktischen Einsamkeit, zwei Wochen Schiffsreise von Australien entfernt, von Menschen zuletzt vor 15 Jahren betreten, bloß von Pinguinen besiedelt mit saftigen Zöllen belegt[i]? – Ja, das ist schon Macht!
– Ist der verbrecherische israelische Kriegstreiber, der einen internationalen Haftbefehl vermeidet, indem er an der Donau einen antisemitischen Halbdespoten öffentlich besucht, mächtig, weil er sich auf die Solidarität der Antidemokraten verlassen kann? – Ja, das ist auch Macht.
– Sind die mächtig, die in Istanbul durch Freiheitsberaubung, in Peking durch Überwachung, in Moskau durch die generationenlange Einschüchterungskraft hundertjähriger Diktatur herrschen? – Ja, das alles sind Männer mit Macht.
Aber bei jedem von ihnen gibt es eine Paranoia, eine Deformation, einen Wahn, der noch viel mächtiger ist, weil er die Schreckensherrscher beherrscht: Die nackte Angst, der blanke Hass, der unheimliche Hirnnebel des kleinen und des großen Misstrauens. Diese Quäl- und Störgeister, diese unentwirrbaren Gespinste und alles vergiftenden Trübungen machen die Mächtigen zugleich zu Ohnmächtigen. Je mehr sie ihrer Macht vergewissert werden durch eine bestimmte fixe Idee, eine zum Weltbild erstarrte Verfolgungspanik, eine luftdichte Käfigkammer um den Kopf, in der nur die eigene und die genehmigte Lüge die Atmung und den Stoffwechsel ersetzen, desto todesstarrer macht die Macht die Machthaber.
…. Bis sie schließlich nur noch bei jedem Neugeborenen zucken wie Herodes (vgl. Matth. 2,3 +16), vor jedem Liebling des Volkes zittern wie Saul (vgl. 1.Sam.18,8) und noch bei kleinen Handwerkern mit helfenden Händen und einem heiligen Herzen von Verunsicherung ergriffen werden wie Pilatus.
Pilatus spürte in Dem, Der bloß auf einem Esel herangeklappert war und doch von einem Ausbruch jubelnder Hoffnung empfangen wurde, den Systemsprenger. … Gewaltige Besatzungsarmeen, eine zugriffsfähige Infrastruktur, ein großzügig vereinnahmender Multi-Kult von Brot und Spielen für alle möglichen Bevölkerungsteile hatten ein Weltreich hervorgebracht, das er, Pilatus, oberhalb des irritierenden Tempels des Unsichtbaren wohl oder übel repräsentieren musste. … Und nun steht ein lumpiger Gefangener mit einem unergründlichen Judengesicht, das von kaum getrockneten Tränen und einem Faustschlag (vgl. Joh.18,22) gezeichnet ist, vor ihm und er, Pilatus, der Statthalter einer sichtbar als Kaiser herrschenden Gottesmacht, bebt im Innersten, und fragt den Geprügelten, ob Er ein König sei?!
Wer ist der Mächtigste? …….
Der König von der traurigen Gestalt, Den Menschen noch Jahrtausende später lieben werden und um Den auch wir heute - hoffentlich jedoch anders als Pilatus - zittern, … der König in Seiner Schwäche aber antwortet nicht, indem Er abwiegelt und auf Seine Wehrlosigkeit, auf den lächerlichen Mangel an Unterstützung und Truppen, auf die groteske Erbärmlichkeit des ganzen Missverständnisses zwischen Weltmacht und Himmelreich verweist, sondern Er tritt noch haarsträubender aus der Deckung: Er zeigt Seine einzige Waffe, … die entweder ein Witz oder die einzige Antwort auf Pilatus’ und unsere Frage nach der Macht ist.
Als Menschen- und als Weltkind sieht der hilflose König aus dem erloschenen Hause Davids, das selbst in Israel längst von Makkabäern, Hasmonäern und Herodianern ersetzt wurde, sich dazu gekommen, dass Er die Wahrheit bezeuge.
Ist Wahrheit demnach die Macht der Mächte? …
Wenn’s doch bloß so wäre! – Seit langer Zeit inzwischen quält mich die unverzeihliche Vernachlässigung des Wahrheitsbegriffs in unserer Theologie und Praxis als Christen und als denkende, handelnde, als ethische und politische Zeitgenossen: Wir haben die Zumutung einer Wahrheit eingemottet, um die Offenheit für viele Wahrscheinlichkeiten und Wünsche zu gewinnen. Das schien sympathisch und zeitgemäß, … und hat dem ungehinderten Wuchern wildester Lügen weltweit Vorschub geleistet.
… Und nun hören wir mit den verzagten Ohren des Pilatus, der angesichts des Systemsprengers aus Nazareth in Galiläa die Machtfrage stellt, dass die Wahrheit - die uns so fern gerückt ist - die Lösung der Macht-und-Schuld-und-Paranoia-und-Ohnmachts-Frage sein könnte. …
… Was aber ist die Wahrheit? – Wer’s weiß: Bitte aufzeigen! …
Mein ältestes Beispiel für die Vexierfrage, was wann, wie und warum wahr ist, bleibt der erste Satz, den ich aus dem Mund meiner neuen Klassenkameraden in England als kleiner Junge verstand: „Your granddad’s Adolf!“ … Es stimmte ja! Mein Großvater hieß Adolf Marquardt. … Woher wussten sie das aber? … Und wenn sie es nicht wussten, hatten sie dann trotzdem recht? Ein Recht, das ich als Achtjähriger nicht verstand …….?!
Was ist Wahrheit? Ist das biblisch ganz und gar verbürgte, von Gott zugesprochene Recht des Volkes Israel am Lande Kanaan als Inhalt der Verheißung wahr im Sinne von territorialpolitisch gültig und genozidal zu vollstrecken? Ist Kiew, weil die Rus dort ihren Ursprung hatte, in Wahrheit russisch? Ist der nach ehrlicher Überzeugung vieler unserer westlichen Mitmenschen logische gegenseitige Ausschluss von Glaube und Wissen, den die Philosophen von Descartes bis Kant andeuteten und den seither die wissenschaftlich-materialistischen Weltanschauungen des Kommunismus und des Konsumismus menschenverachtend durchexerzieren, in irgendeinem nicht-ideologischen Sinn als „wahr“ zu bezeichnen?
Genauso können wir fragen: Wann ist etwas nicht wahr?
Wenn die Willensfreiheit, auf der die alte christliche wie die neuzeitliche Selbstwahrnehmung beruhen, tatsächlich von der Hirnforschung widerlegt wäre, … wäre dann das Freiheitspostulat in allen nicht-tyrannischen Weltanschauungen nicht mehr wahr? Ist es nicht in einem vollen, wenn auch nicht physikalischen Sinne wahr, dass das Blau des Himmels uns beglückt? Ist es richtig, dass Protestanten die Marienbotschaft von Fatima[ii] als unwahr betrachten müssen, obwohl die Aussage des zweiten Geheimnisses so unwiderleglich zutrifft: Dass nämlich erst wenn Russland sich bekehrt – von seinem ursprünglich zaristischen, dann gottlosen und heute pervers nationalreligiös legitimierten Imperialismus – Friede sein wird?!
Was ist Wahrheit, wenn sie keinesfalls eine mathematische Gleichung mit entweder korrekten oder verkehrten Elementen und Ergebnissen ist? …….
Wir sehen nur, dass fast nichts von dem, was derzeit groß und mächtig ist an Strömungen und Stimmungen, an Entwicklungen und Entscheidungen in der Welt auch nur annährend an eine allgemein akzeptierte, verbindende Wahrheit anknüpft. Fast alle Bewegungen unserer Zeit werden durch Sonder- oder Antiwahrheiten befeuert, … also Lügen.
… Und die nicht lügen wollen, sind ratlos. …
… Obwohl doch einer der schönsten Grundlagentexte der Moderne wie wir sie kannten mit dem unglaublich wehmütig stimmenden, kaum noch vorstellbaren Satz beginnt: “We hold these truths to be self-evident”[iii] … „Wir halten diese Wahrheiten für solche, die sich selbst erschließen …“
… Gibt es das noch? … Wahrheiten, die sich als solche zeigen? … Auf die man sich einigen, durch die man vereint werden kann?
… Wenn wir neben dem grübelnden, sich windenden Pilatus stehen, der in seiner Machtposition durch den machtlosen sog. König der Juden verunsichert ist und wenn wir gemeinsam mit Pilatus nun auch noch dieses land- und glanzlosen Königs verteidigungslose, aber überirdisch unerschüttert wirkende Selbstauskunft und Kampfansage hören: „Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme!“, … dann vergehen auch uns neben den Machtmätzchen genauso unsere übergescheiten oder unterbelichteten Wahrheitsfragen. Zwar hören wir – hoffentlich! - Seine Stimme, … aber verstehen wir Ihn? Wissen wir, was Er meint?
… Und so bleibt der stumme Blick auch bei uns wie jenes verwirrte Blinzeln des Praefekten Pontius Pilatus an der Jammergestalt des so ungeschützt angreifenden Angeklagten hängen: Geschlagen, …nicht besiegt. Gequält und dennoch unverstummt, … Er bleibt im Wort, Der selbst das Wort ist, das im Anfang war (vgl.Joh.1,1). … Verunstaltet Sein Fleisch. Aber vor Kurzem noch, an Weihnachten haben wir wieder und wieder gehört und bekannt, dass wir Seine Herrlichkeit sahen (vgl. Joh.1,14): Die Herrlichkeit, die jetzt mit angstschweiß-getränkter Gethsemaneerde an Seinen wundgebeteten Knien und Ellbogen und unter Seinen Fingernägeln verschmiert ist. Die Herrlichkeit, der eben einer auf die Fresse geschlagen hat. Die Herrlichkeit, die unter einer Krone aus Stacheln und an einem ausgepeitschten Leib geschändet, aber nicht gelöscht werden kann, weil Sie das älteste und unvergänglichste Siegel aller Welt trägt: Das Siegel der Gott-Ebenbildlichkeit (vgl. 1.Mose1,27!). Das vollendete und darum unwiderruflich unzerstörbare Menschenbild Gottes, des Gottesbild in nackter Menschlichkeit steht da!
Und es wird das gleiche Bild sein – heilig und unbestreitbar – auch wenn sie es an einem Kreuz aufspießen, … auch wenn sie es in Jahrtausenden der Willkür und der Geistlosigkeit versklaven und verschleudern und verschandeln, … auch wenn sie es in Auschwitz und in Hiroschima oder in Gaza und in Kryvyj Rih und an noch viel näheren Tat- und Unterlassungsorten aufs Brutalste schikanieren und negieren …….
Ein Mensch wird ein Mensch bleiben.
… Und auch wenn nichts mehr an ihm die Merkmale des uns Vertrauten oder uns Erträglichen aufwiese: Das Häufchen Elend vor Pilatus, das Häufchen Asche, das vielleicht zuletzt von allen bleiben mag, wird niemals jenen einzigartigen Glanz, jene Würde, Hoheit, Schönheit, Herrlichkeit verlieren, die vor Seinem Schöpfer dieses Geschöpf auszeichnen, um dessentwillen Er Seinem Bild - dem Menschen - gleich wurde, um ihn auch in der grausamsten Infragestellung zu erhalten, … um ihn in der grimmigsten Gefährdung nicht zu verlassen, … um ihn nicht preiszugeben an den Tod, sondern sein Lebensrecht auf seine wahre, seine ursprüngliche und endlich bleibende Herrlichkeit zu erkämpfen.
Das also ist die Wahrheit dieses Königs! – Sie ist keine Idee, kein abstrakter Wert, keine intellektuelle Funktion. Sondern einfach und mit erstem, letztem Ernst der Mensch.
Und niemals wird die wirkliche, die wirksame und heilige, die gültige und bleibende Wahrheit etwas anderes sein! – Keine Formel, kein System, keine Intelligenz des Künstlichen. Sondern der hinfällige und bedrohte, sich selber bedrohende und verleugnende Mensch, der vor Gier und Geilheit zwar blind und böse, ja monströs und unmenschlich werden kann - „Mantje, Mantje! Timpe Te!” -, aber doch in seinen hellen Stunden erkennen und bekennen muss, dass auch sein Widerspruch gegen sich selbst und seinesgleichen nicht ungeschehen machen und nicht aufheben kann, wie Gott ihn wollte, sieht und retten wird.
Denn auch der seltsam verblasst und verklungen wirkende Satz von der sich selbst durchsetzenden Wahrheit in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ist ja nichts anderes als ein Kommentar zur Schöpfungsüberlieferung der Genesis: “We hold these truths to be self-evident that all men are created equal …”
Lebendige Wahrheit kommt eben übers jeweils Menschliche niemals hinaus und am Recht alles Menschlichen niemals vorbei!
Und das Verhör vor Pilatus, der Prozess, der gegen Kafkas „Process“ der hoffnungslosen Absurdität in der Welt des tollen Menschen und des Sisyphos[iv] der Anti-Prozess einer das Absurde noch durchglühenden Hoffnung auf die herrliche Freiheit der Kinder Gottes ist (vgl. Rö.8, 21), … dieser Prozess, dessen Zeugen wir heute an der Seite des ihn führenden Pilatus waren, führt auch uns mit ihm zum Spruch der Wahrheit.
… Der Wahrheit, wie sie da steht. Und wie sie von dannen gehen wird, um zu sterben, damit sie nicht immer wieder vergehen muss, sondern neu und ewig zum Leben rufen kann. ——
Das Urteil, das in der Frage der Macht und Wahrheit fallen muss und das wir selber uns nicht sprechen können, steht also wahrhaftig da … in der Gestalt unseres Stellvertreters.
Es steht sogar buchstäblich da.
Denn es ist eine so alte Entdeckung, dass ihr Urheber im Dunkel der Vergangenheit verborgen ist, damit das einleuchtende Spiel in diesem schrecklichen Ernst umso heller strahle: Irgendeinem von uns ist also aufgefallen, dass die von Pilatus sicherlich auf Lateinisch gestellte oder zumindest gedachte Menschheitsfrage „Was ist Wahrheit? Quid est veritas?“ schon die Lösung enthält. „QUID EST VERITAS“ ist das Anagramm, der Mosaikkasten der einzig wahren Antwort: „EST VIR QUI ADEST“[v] … „Sie ist der Mensch, der hier steht!“
Und so lauten Urteil, Lösung und Verheißung aller unserer Fragen auch:
Die Kraft und das Maß, an denen sich messen lässt, was gilt und bleibt, ist der Mensch.
Sehet darum, den Menschen!
… Es ist Jesus!
Amen.
[i] Zu den absurden geographischen Geltungsräumen der jüngsten Trump‘schen Zollentscheidungen vgl. https://www.politico.com/news/2025/04/02/us-tariffs-around-the-world-030348; https://www.theguardian.com/us-news/2025/apr/03/donald-trump-tariffs-antarctica-uninhabited-heard-mcdonald-islands
[ii] Die Texte der drei Geheimnisse von Fatima finden sich auf der Seite des geschichtswissenschaftlichen Quellensammlungsportals Clio-online: https://www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28435
[iii] https://www.archives.gov/founding-docs/declaration-transcript
[iv] Das Dreigestirn der Visionäre der Hoffnungslosigkeit – Nietzsche, Kafka und Camus – gehört gerade für Menschen aus der Hoffnung zu den wichtigsten und am meisten ernstzunehmenden Stimmen der Moderne: Niemals dürfen wir naiv in unserer Hoffnung sein, … als hätten diese Drei keine Wahrheit geäußert.
[v] Um eine Belegstelle für dieses alte und verbreitete Buchstabenspiel voller Wahrheit zu nennen, sei verwiesen auf eine Ansprache Papst Pauls VI., die er bei einer Audienz am 20.Mai 1970 hielt: https://www.vatican.va/content/paul-vi/it/audiences/1970/documents/hf_p-vi_aud_19700520.html
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Psalm 103,15-16.17
Denn was jetzt vergänglich ist, muss mit Unvergänglichkeit bekleidet werden, und was jetzt sterblich ist, muss mit Unsterblichkeit bekleidet werden.
1. Korinther 15,53