6.S.n.Tr., 27.07.2025, 1. Petrus 2,2-10, Stadtkirche, Dr. Johannes Grashof
Liebe Gemeinde!
„Eckstein, Eckstein, alles muss versteckt sein; hinter mir und vor mir gilt es nicht – ich komme!“ – Vielleicht kennen Sie ja diesen Kindervers. Vielleicht haben Sie selbst als Kind Verstecken gespielt, haben mit dem Gesicht zu einer Wand gestanden und laut gezählt, während Ihre Mitspielenden davonrannten und in der Umgebung ein gutes Versteck für sich suchten.
Zu Ende gezählt haben Sie dann den Ecksteinspruch gerufen, sich umgedreht und mit der Suche nach ihren Spielgefährtinnen und Spielgefährten begonnen. Und wenn Sie welche erspäht hatten, waren Sie zurückgelaufen zum Eckstein, an dem Sie gezählt hatten, haben mit der flachen Hand dagegen geschlagen und die Namen der Entdeckten gerufen. Vielleicht waren aber auch die Gefundenen schneller gelaufen, hatte mit ihrer Hand gegen den Eckstein geschlagen und „frei“ gerufen. Oder andere Kinder hatten ihre Chance ergriffen, während Sie suchend durch das Spielgelände gestreift sind, haben unbemerkt die Strecke von ihrem Versteck zum Eckstein zurückgelegt und sich dort freigeschlagen.
Wenn keine mehr in ihrem Versteck saßen, gab es eine neue Runde und jemand von den Gefundenen musste suchen. Wer sich am Eckstein freischlagen konnte, brauchte nicht zu suchen.
Wie es der Eckstein von der Baustelle in den Reimvers eines beliebten Kinderspiels geschafft hat, darüber lässt sich nur spekulieren. Vielleicht ist dies ja auf dem Umweg über die Bibel geschehen. Über viele Generationen hinweg war sie schließlich sprachprägend – auch in der Kindererziehung. Und einen Ansatzpunkt bietet unser heutiger Lesungstext aus dem 1. Petrusbrief. Gleich zweimal erwähnt Petrus darin den Eckstein explizit, drei weitere Male wird er mit anderen Begriffen umschrieben.
Als Gottesdienst-Profis wissen Sie natürlich sofort, wen Petrus damit meint: keinen anderen als unseren Herrn und Retter Jesus Christus. Wahrscheinlich fällt ihnen dabei sogar ein, dass Jesus selbst zu seinen Zuhörern vom Eckstein sprach – als Metapher für seine eigene Person. Und beide, Petrus wie vor ihm schon Jesus, zitieren dabei denselben Text aus der hebräischen Bibel. Oder, um es genauer zu sagen: eine Passage aus dem 118. Psalm. Da heißt es: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Das ist vom HERRN geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen.“ (Ps. 118,22-23.)
Offenbar geht es in diesem Psalm um ein Stück Baumaterial, dass die Baufachleute zunächst als ungeeignet aussortiert haben, das aber letztlich sogar die tragende Funktion schlechthin erhält: als Eckstein oder Grundstein des ganzen Bauwerks.
Der 118. Psalm ist ein überschwängliches Danklied. Es preist Gottes dafür, dass er in seinem Tun an uns Menschen offenbar für jede Überraschung gut ist und sogar eine aussichtslose Lage in einen vollkommenen Triumph wendet.
Diesen Text hielt bereits Jesus denjenigen Schriftgelehrten seines Volkes entgegen, die ihm mit Ablehnung begegneten: Seid euch nicht so sicher mit eurem festgefügten, viel zu engen Bild von Gott! Denn Gott rettet wen er will und wie er will – und das ganz ohne eure theologische Expertise.
Wahrscheinlich denkt Petrus auch an diese Szene aus dem Leben Jesu, wenn er aus dem 118. Psalm zitiert. Und ich bin sicher, bei den Lesern seines Briefes knüpft der Apostel hier an Bekanntes an.
Ja, so war es mit Jesus selbst gewesen: von den Römern gekreuzigt, weggeworfen wie ein unnützes Stück Bauschutt, aber nach drei Tagen bereits lebendiger denn je. „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden.“ Und durch ihn lädt Gott plötzlich auch solche Menschen zu seinem Volk ein, an die vorher niemand jemals gedacht hätte. Leute, die nie dazu gehört haben, weil sie halt die falschen Vorfahren hatten. Nutzloses Geröll eben. Aber die nun dazukommen dürfen, die nun auch als lebendige Steine auferbaut werden, die mit allen anderen zusammen von dem lebendigen Eckstein Christus zusammengehalten werden – zu einem neuen und lebendigen Bauwerk.
Und das ist nicht irgendein Bauwerk. Petrus nimmt noch auf einem anderen Text der heiligen Schriften Bezug: Vor langer Zeit kündete der Prophet Jesaja von einem auserwählten, kostbaren Eckstein, den Gott selbst auf dem Zion legen würde (Jesaja 28,16). – Kein Zweifel: Jesus ist für den Apostel Petrus der Grundstein zum neuen Tempel Gottes. Dieser Tempel besteht nicht mehr aus mineralischen Steinen, sondern aus „lebendigen Steinen“ – den Christen. Die Kirche ist dieser neue, geistliche Tempel Gottes – gegründet auf einem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen wurde, aber bei Gott auserwählt und kostbar ist. Errichtet aus lebendigen Steinen, auch aus solchen, die, wie Petrus schreibt, einst nicht sein Volk waren, nun aber auch Gottes Volk sind.
Ihr seid das! – so schreibt es Petrus seinen Lesern, von denen viele offenbar nicht aus dem jüdischen Volk stammten, sondern weiß Gott woher kamen. Von Anfang an ist die Kirche das multinationale Projekt Gottes. Und allen, die kommen, versichert Petrus: Ihr dürft dazugehören, weil Gott euch genauso liebt, wie er schon damals unsere jüdischen Vorfahren liebte, die er gegen alle historische Wahrscheinlichkeit immer wieder gerettet und am Leben erhalten hatte: aus der Sklaverei in Ägypten, aus der babylonischen Gefangenschaft und unzählige Male dazwischen und danach. Und nun habt auch ihr, die ihr dazugekommen seid, von seiner unermesslichen Freundlichkeit kosten dürfen.
Diese Freundlichkeit Gottes, das ist, so schreibt Petrus, die vernünftige Milch, nach der wir alle gieren sollen, wie die Neugeborenen. Sie manifestiert sich für uns in Jesus Christus, dem Eckstein, der uns alle als lebendige Steine trägt. Auf ihn sind wir getauft. In ihm sind wir neu geboren.
Und das hat Folgen. Petrus nennt diese Folgen bereits in dem Satz, der unserem Textabschnitt vorausgeht: „So legt nun ab alle Bosheit und allen Betrug und Heuchelei und Neid und alle üble Nachrede“ (1.Petrus 2,1).
Wir sind getauft! Wo wir auf Christus als dem lebendigen Eckstein Stein ruhen, wo wir uns von diesem Stein zusammenhalten lassen, da werden wir zu einem geistlichen Bau, der diesen Namen auch verdient, weil er in jedem einzelnen seiner Steine die Freundlichkeit Gottes ausstrahlt. Das ist doch unsere einzige Aufgabe als Christen, als Kirchengemeinde: diese Freundlichkeit Gottes spürbar zu machen in allen unseren Lebensäußerungen. Und ohne Grenzziehungen. Gottes Liebe gilt nicht nur binären weißen Männern, sondern allen Menschen, sie gilt gleichermaßen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Wenn wir damit wirklich Ernst machen, dann braucht uns um den Bestand der Kirche nicht bange zu werden.
Die Kirche lebt ja nicht, weil wir Menschen ihre Zukunft planen – in Strukturdebatten und Fusionsbeschlüssen. Sondern sie lebt dort, wo und weil Gott sie auferbaut auf dem Eckstein, den er selbst gelegt hat – und das von Anfang an gegen alle menschlichen Zukunftsmodelle! Die Kirche lebt dort, wo sie sich von Gott aufbauen lässt zu einer geistlichen Alternative zur Katastrophenwirtschaft dieser Welt.
Wir sind getauft! Das ist die lebendige Basis für all unser Tun. Das darf uns zuversichtlich stimmen und gleichzeitig gelassen machen gegenüber allen menschlichen Planungsversuchen, wo sie den lebendigen Eckstein Jesus Christus zur Nebensache machen. Wir brauchen uns nicht zu verstecken.
Und hier möchte ich auf den anfänglich zitierten Kindervers zurückführen. „Eckstein, Eckstein, alles muss versteckt sein …“ Nein, es ist ja nicht wirklich das Ziel dieses alten Kinderspieles, sich zu verstecken. Ziel ist es vielmehr, sich nicht mehr verstecken zu müssen. Wenn irgend möglich, wenn sich im Verlauf des Spiels die Gelegenheit dazu bietet, will ich raus aus meinem Versteck, zum Eckstein gelangen und mich an ihm freischlagen. In jeder Spielrunde wieder neu.
Lassen wir uns hier von den Kindern und ihrem unschuldigen Spiel geistlich auf die Sprünge helfen: Ich bin getauft! Das ist der wichtigste Befreiungsschlag in meinem Leben. Ja, Christus ist für mich der Eckstein, bei dem ich wirklich frei bin. Frei von Sünde und Tod. Frei bei ihm, der von den Menschen verworfen und gekreuzigt wurde, aber von Gott auferweckt und zum Eckstein erwählt wurde. Er ist so für mich die fleischgewordene Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes. Auf ihn mein Leben zu bauen, das schenkt mir Leben in Ewigkeit.
Liebe Gemeinde! Wenn Martin Luther depressiv wurde, nahm er ein Stück Kreide und schrieb damit vor sich auf die Oberfläche seines Schreibtischs: Ich bin getauft! Dann wusste er: Es ist Gott, der mich in seiner großen Menschenfreundlichkeit als sein Kind angenommen hat. Es ist Christus, der Eck- oder Grundstein, auf dem mein ganzes Leben ruht. Das gilt. Das lässt mich frei sein. Weil ich getauft bin. In alle Ewigkeit. Was kann mir passieren?
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
5.S.n.Tr., 20.07.2025, Matth. 9,35-38;10,1.5-10, Stadt- und Tersteegenkirche, Dr. Petra Brunner
Predigt Matthäus 9,35-38; 10,1.5-10.
Die Ernte ist reif
Es ist heiß, in den letzten Tagen hat es nicht mehr geregnet und auch in den nächsten Tagen soll es trocken sein.
Gerade ist Claudia über ihren großen Hof mit dem Fahrrad zum Feldrand gefahren.
Mit der Hand prüft sie nochmal die Ähren, sie sind groß und fest und trocken.
Sie lässt ihren Blick über das weite Feld schweifen, sie hört die Grillen zirpen, in der Ferne flirrt Staub in der Sommerhitze.
„Perfekt… morgen geht es los...“ sagt sie vor sich hin.
Während sie auf ihr Rad steigt, geht sie im Kopf nochmal ihre Checkliste für die Ernte durch:
Der Mähdrescher ist gewartet, die Erntewagen sind vorbereitet, es gibt genug Ersatzteile wie Messer für das Schneidwerk, denn wenn der Mähdrescher während der Ernte ausfällt, dann bedeutet eine Minute Pause mindestens 10€ Verlust für den Betrieb.
Ihre Vorratskammer ist voll mit Essen und Snacks für die Arbeiter.
Es kommen Freunde zum Helfen und den Mähdrescher fahren ihr Mann und ihr Sohn.
Es ist alles bereit.
Claudia ist schon zurück auf dem Hof, sie öffnet die Haustür, da kommt ihr ihr Mann entgegen; er sagt: Mir geht’s gar nicht gut. Wir haben etwas nicht vertragen….“ Dann rennt der Mann zur Toilette und Claudia hört nur noch ein Würgen.
Hier ist eine große Ernte aber nur wenige Erntearbeiter
Matthäus 9,35-38; 10,1
Jesus zog durch alle Städte und Dörfer des Landes.
Er lehrte in ihren Synagogen
und verkündete die Gute Nachricht vom Himmelreich.
Dazu heilte er jede Krankheit und jedes Leiden.
Jesus sah die große Volksmenge
und bekam Mitleid mit den Menschen.
Denn sie waren erschöpft und hilflos –
wie Schafe, die keinen Hirten haben.
Deshalb sagte er zu seinen Jüngern:
»Hier ist eine große Ernte,
aber es gibt nur wenige Erntearbeiter.
Bittet also den Herrn dieser Ernte,
dass er Arbeiter auf sein Erntefeld schickt!«
Jesus rief seine zwölf Jünger zu sich
Er gab ihnen die Vollmacht, böse Geister auszutreiben
und jede Krankheit und jedes Leiden zu heilen.
Korrupt und mit sich selbst beschäftigt
Korrupt und mit sich selbst beschäftigt sind die Hirten, die Mächtigen, die Leiter und die Einflussreichen, die die eigentlich das Volk in Weisheit führen sollen.
Wie schlimm die Situation ist, das hat Jesus erfahren. Jesus war unterwegs im ganzen Land, er war bei den Menschen und hörte ihre Geschichten. Jesus wusste von ihren Albträumen und von ihren Zwängen; von den Ängsten, die sie nachts auf der Matte wach liegen ließen. Er sah, wie erschöpft die Menschen waren.
Jesus erzählte Ihnen vom Himmelreich, er erzählte die gute Nachricht, dass Gott die Menschen liebt.
Korrupt und mit sich selbst beschäftigt sind die Hirten, die Mächtigen, die Leiter und die Einflussreichen, die die eigentlich das Volk in Weisheit führen sollen.
Jesus sieht die Menschen; Jesus hört die Menschen und er sieht sie wirklich an. Jesus dreht es alles um; seine Gedärme ziehen sich zusammen; es ist dieser tiefe und dumpfe Schmerz, der ihn so ganz tief in seinem Inneren bewegt. Jesus ist tief und emotional bewegt. Und diese tiefe emotionale Bewegung treibt ihn an.
Und Jesus tritt auf, als der wahre Hirte;
Er sagt: Die Hirten des Volkes Israels führen das Volk nicht gut!
Hier geht es jetzt nicht, um eine antijudaistische Pointe;
es geht aber um den Konflikt im Matthäus-Evangelium, der schließlich auch beim Tod Jesu eine Rolle spielt. Nämlich wer sind- wer ist der wahre Hirte? Sind es die geistlich-politischen Führer des Volkes Israel zur Zeit der Zeitenwende oder ist es Jesus, der das Volk recht führt? Dieser Konflikt um Führungsanspruch führt im Matthäus-Evangelium zum Showdown vor dem Hohen Rat mit der Frage ob Jesus der Messias sei. Und dann vor Pilatus zu der Frage ob Jesus der König der Juden sei? Die Mächtigen bringen ihn ans Kreuz, weil sie es nicht ertragen, dass er ihre korrumpierte, verlogene Macht demaskiert.
Die Aufgaben der politischen, der geistlichen Führungselite ist es die Menschen wohl und weise zu leiten. Doch sie sind getrieben von eigenen Interessen, sie wollen mächtig sein, Kontrolle und Geld haben. Sie sind korrumpiert.
Oh wie gut kennen wir das, wenn wir auf Politiker, auf Konzernchefs und auch auf Mächtige Menschen in der Kirche schauen: Machtgier und Korruption.
Und Jesus dreht es seine Eingeweide um, sein Gedärm verdreht sich, wenn er es das sieht. Jesus reagiert ganz emotional auf die erschöpften, orientierungslosen Menschen vor ihm. Auf die Menschen vor denen so viele falsche und verlogene und korrupte Leiter, Führer und Hirten stehen.
Jesus sieht das im Matthäus-Evangelium und auch heute.
Und Jesus sagt: Ich bin der gute Hirte, ich setze mein Leben für euch Gotteskinder ein. Ich bin der gute Hirte ich achte auf euch.
Jesus ist der Hirte, der der allein die Menschen und die Welt in Weisheit führen kann.
Doch es gibt soviel zu tun. Die Ernte ist groß und wenn die Ernte reif ist, dann braucht es Arbeiter: innen.
Jesus beruft seine Jünger, Jesus beruft uns Menschen dazu Anteil zu haben an seinem Hirtenamt. Jesus stattet uns aus, damit wir Teil haben können an seinem Hirtenamt.
Jesus macht das nicht alleine. Jesu Verkündigung und das was Jesus macht und was die Jünger, was seine Gemeinde tun die sind ganz eng verbunden.
Matthäus 9,35-38; 10,1, 5-10
Jesus beruft Jünger und Jesus stattet seine Jünger aus
Jesus rief seine zwölf Jünger zu sich.
Er gab ihnen die Vollmacht, böse Geister auszutreiben
und jede Krankheit und jedes Leiden zu heilen.
Die zwölf Jünger sandte Jesus aus.
Er forderte sie auf:
»Nehmt keinen Weg, der zu den Heiden führt!
Und geht in keine Stadt, die den Samaritern gehört!
Geht stattdessen zu den verlorenen Schafen:
den Menschen, die zum Volk Israel gehören!
Geht zu ihnen und verkündet ihnen:
›Das Himmelreich kommt jetzt den Menschen nahe!‹
Macht Kranke gesund, weckt Tote auf,
befreit Menschen vom Aussatz, treibt Dämonen aus!
Als Geschenk habt ihr alles bekommen –
als Geschenk sollt ihr es weitergeben!
Steckt auch kein Geld in eure Gürtel –
weder Gold noch Silber noch Kupfermünzen!
Nehmt keine Vorratstasche für unterwegs mit,
kein zusätzliches Hemd, keine Sandalen
und keinen Wanderstock!
Denn wer arbeitet, hat ein Anrecht darauf,
versorgt zu werden.
Ist alles vorbereitet? Ausgestattet mit allem was wir brauchen
Vorbereitet sein ist alles. Für den Sommerurlaub gibt es oft noch viel zu erledigen. Eine lange Liste mit Kleinigkeiten, die vorher noch in der Drogerie gekauft werden müssen. Kleidung für die Freizeit, zum Schick-essen-Gehen, Sonnenmilch oder Regenschutz. Gut vorbereitet sein, ist beim Sommerurlaub eigentlich immer eine gute Idee.
Jesus sagt seinen Jüngern so ziemlich das Gegenteil. Eure Tasche soll nicht zu schwer werden.
Kein Geld, kein Gold, keine Münzen, keine extra Unterhosen, Schuhe oder extra Brotzeit.
Kontra-Intuitiv, nicht gut ausgerüstet, schickt Gott seine Jünger los.
Für den Urlaub bereiten wir uns vor, weil wir manchmal noch nicht genau wissen, wo wir hinkommen und wie das sein wird.
Jesus schickt seine Jünger, Jesus schickt uns los, um von seinem Himmelreich, von der guten Botschaft zu erzählen. Jesus sagt, ihr werdet alles bekommen was ihr braucht: Jesus schickt sie los in eine Welt, in der es immer genug von allem gibt. Ich schicke euch, daher könnt ihr mit leichtem Gepäck gehen, denn ihr wisst, der große Hirte Jesus schickt euch; er wird euch genug in dieser Welt vorbereitet haben.
Und Jesus, der große und gerechte Hirte, der wahre Hirte, der stattet seine Jünger, seine Gemeinde aus: mit der Vollmacht, für Kranke zu beten und sie gesund zu machen. Er stattet uns aus mit Kraft, Menschen von ihren Leiden zu befreien. Er stattet uns aus, mit den richtigen Worten, Gedichten und Liedern von Himmelreich zu erzählen. Er stattet uns aus mit Mut, die frohe Botschaft zu sagen, da wo sie noch keiner kennt.
Das zu tun, was Jesus getan hat, das ist der Auftrag der Jünger, das ist der Auftrag der Gemeinde und wir sind gut ausgestattet.
Im Matthäus- Evangelium schickt Jesus die Jünger erstmal zum Volk Israel. Dann später in Kapitel 28 steht der sog. Taufbefehl: Geht hin zu allen Völkern.
Jesus schickt die Jünger, schickt uns los. Er gibt uns Anteil an seiner Vollmacht, an seiner Hirtenaufgabe, er gibt uns seine Kraft und dann sagt er:
Ihr könnt ohne Packliste gehen, ohne Extra, denn ich schicke euch in meine Welt, da gibt es schon alles, was es braucht. Ihr seid ausgestattet mit allem, was ihr braucht. Erzählt den Menschen von Gott, von dem was ihr geschenkt bekommen habt und schenkt es so weiter.
Denn auch, wenn wir immer wieder von Kirchenschrumpfung hören. Jesus sagt: Ich schick‘ euch los und ich brauche euch. Erzählt von dem, was ihr geschenkt bekommen habt.
Amen
5.S.n. Trin., 20.07.2025, Mutterhauskirche, Matthäus 9,35-10.10, Jonas Marquardt
Predigt Mutterhauskirche 20.VII.2025 – 5.n.Trin.
Matth.9,35-10,10
Liebe Gemeinde!
Das alte masurische Lied von der sommerlichen Feldarbeit (EG 513: "Das Feld ist weiß") und Jesu Blick übers sommerliche Land …. sie haben beide nicht das Unbeschwerte, das sorglos Seelenbaumelnde, das wir in diesen Wochen suchen.
Vielleicht war’s also ein Fehler, so einen Sommersonntag in der Kirche zu beginnen …….
Wenn’s aber nur Kirchenernte wäre, über die Jesus sich sorgt und seufzt, … wenn’s also nur darum ginge, dass so viele Arbeitsfelder in den Gemeinden und im seelsorglichen, religionspädagogischen und auch diakonischen Bereich unbestellt bleiben, … nun, dann könnte man sich schon beruhigen. Denn das kannte ja bereits die Antike: Den sogenannten Landwechsel, bei dem auf Anbau, Saat und Ernte die Brache folgte. Der urbare Boden muss regelmäßig ja auch unbestellt bleiben, um seine Fruchtbarkeit zu bewahren. Es muss Jahre geben, in denen alles still liegt - so wie wir im Sommer -, um danach wieder Zeiten zu ermöglichen, in denen das Leben sich regt, in denen es Ackern und Rackern gibt, durch die dann Segen erwächst. … Und dann heißt es nach der alten Lutherübersetzung, die falsch ist, aber die noch die Bauern in meiner Kindheit ganz unbedingt bei ihren Beerdigungen hören wollten: „Und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen …“ (Ps.90,10).
Schuften und Sterben. Fleiß und Loslassen. Schweiß und Ausgespannt-Werden: So sind die mit den schwieligen Pranken, mit der Hornhaut bis in die Fingerspitzen und dem unauswaschbaren Erdrand unter den Nägeln ans Lebenswerk und seinen Feierabend gegangen. Es muss auch Brache geben. Manchmal oder irgendwann gibt’s nichts mehr zu tun. Dann läutern die Glocken und alles andere verstummt. ……. ——
Schön, wenn es also nur das wäre mit der Ernte: Das, was wir naturvergessenen Kinder der künstlichen Welt den Biorhythmus nennen, den wir mit Entschleunigung und Achtsamkeit und Meditationsübungen in seinen schöpfungsgemäßen Wechsel von Treiben und Verharren, von Hochdruck und Luftablassen bringen wollen. Denn dass kein Segen auf dem immerwährenden Senden, Machen, Leisten liegt, hat sich gleichzeitig mit dem Wahn der ewigen Selbstverbesserung rumgesprochen: Der Stress, mit dem Stress aufzuhören, ist dabei der letzte Schrei der Selbstoptimierung geworden.
Was also wär’ so schlimm daran, wenn’s da ein großes Potential gibt, das eingefahren werden könnte, und bloß zu wenig Energien und Arbeitskräfte, um es auch zu realisieren?
Was also echauffierst Du Dich, Jesus? Entspann’ doch, wenn Dein Kirchenfeld – jedenfalls hier und heute - zur Brache wird! Es wird ihm guttun. Es wird sich regenerieren in der Zeit, in der nichts los ist. Du selbst hast doch gesagt, dass der Same schon aufgehen und wachsen wird … und kein Mensch weiß, wie (vgl. Mk.4,27). ———
– Doch das ist es nicht!
Jesus quengelt nicht über den Fachkräftemangel in Sachen organisierten Glaubens. Er ist nicht bang, dass ihm die Leutchen im Amt oder die Nachfrage nach dem volkskirchlichen Angebot oder die zur Weihnacht ins Leben zurückkehrenden Leichen in der Kartei ausgehen können. Er ringt nicht die Hände über seine heilige Kirche, über die er als bloße Organisation in diesem Fall vermutlich tatsächlich mit Luther über- und einstimmen würde: „Lass fahren dahin, / sie haben’s kein Gewinn: / Das Reich muss uns doch bleiben!“ (EG 362,4).
Wenn wir nur wüssten, was die Kirche ist – Jesu eigener Leib, der sich aus den Getauften, den Glaubenden aller Zeiten unsterblich zusammenfügt und weil er von den Toten auferstanden ist niemals verschwinden, niemals mehr untergehen kann – … wenn wir also nur wüssten, was die Kirche ist, dann würden wir nicht missverstehen, was der Kummer unseres Herrn angesichts der faulenden Ernte, des ungenutzten und unbrauchbar verfallenden Segens ist. … Kirchenbauchschmerz ist es nicht. … Die Kirche lebt! … Jede Wette! … ——
Es ist ein anderer Schmerz, der ihn da packt, wenn er die brutale Verwahrlosung auf dem Grund der Welt sieht, wenn er die vernachlässigten Fluren, die wuchernden Wildnis und daneben die wunderreichen Ansätze auf der Erde sieht, die sich zwar zeigen im jungen Grün und blühenden Leben, …. nur um dann erstickt zu werden oder auf dem Halm zu vertrocknen und zu welken. …
– Wen aber kümmert’s? …….
– Und das ist der Kummer!
Dass niemand sich um die Welt kümmert. Dass niemanden das Elend schert. Dass niemand für die Menschen sorgt. Dass viel zu wenige mit anpacken. Dass viel zu wenige die Hand an den Pflug legen. Dass viel zu wenige sich überhaupt die Hände schmutzig machen wollen. Dass Du nicht da bist. Und dass ich nicht da bin. Und dass wir nicht da sind, wo wir doch so sehr, so sehr, so sehr gebraucht werden.
Das ist der Kummer Jesu, … sein Welt-Schmerz!
Wir dürfen nämlich nie vergessen, dass die Kirche nur eine kleine Parzelle ist in der viel größeren Landschaft Gottes. Und dass die Sorge und die Sendung Jesu darum nicht nur einem Feld, sondern Wald und Wiese, Steppe und Auen, Berg und Tal in sämtlichen Weltgegenden in allen Himmelsrichtungen genauso gelten wie dem Kirchengärtlein.
Der Herr der Kirche ist ja der Herr der Welt!
… Bloß was für eine Welt das ist! … Zu was für einer Welt sie wird. … In was für einer Welt auch heute der durstige und abgekämpfte Jesus (vgl. Joh.4,6!) steht und zu den Jüngern spricht: „Hebt eure Augen auf und seht auf die Felder, denn sie sind reif zur Ernte!“ (Joh.4,35) —
Diesen Ernteruf aus dem Johannesevangelium sollten wir aber genauso wie den Ernteseufzer aus dem Matthäusevangelium nicht schlicht mit der Missionsthematik – „Rasch, holt vorm Regen überall die Garben ein!“ – und auch nicht mit der Gerichtsthematik – „Jetzt ist alles reif und bald wird’s gesichelt und gedroschen und gesiebt!“ – gleichsetzen.
… Gewiss: Jesu Mission betrifft alle Menschen!
… Und ebenso gewiss: Sie ist das Gericht über die ganze Welt!
Aber Jesus muss die Menschen nicht ummähen und zusammenbinden, damit sie ihm gehören: Sie sind ja sein. Und sein Verfahren ist es auch nicht, die Welt und ihr Wesen oder Unwesen gewaltsam zu schneiden, zu rütteln und zu schütteln, um sie zu sortieren: Er ist ihr Richter, weil er sie zurechtbringt, weil er universal Recht bringen und Gerechtigkeit schaffen will.
Um aber genau so den Acker zu bestellen, … um also „die Gerechtigkeit auf den Acker zu bringen“ wie’s leitmotivisch in meinem jahrzehntelang nicht mehr gelesenen Lieblingsroman, Ernst Wiecherts „Jerominkindern“ in Anlehnung an den Propheten Jesaja heißt … dazu ruft und sendet Jesus die Seinen in unserm sommerlichen Sonntagswort vom Arbeitsalltag, vom Not- und Ernteeinsatz, die so dringend vor Augen liegen und so viel zu wenig mitwirkungsbereite Erntehelfer finden.
… In die Welt!
… An die Arbeit!
… Zu den Menschen! Damit nicht verdirbt, sondern reift und wirkt und hilft und nährt, was da an Gutem, was da an Segen, was da an Lebenskraft ausgesät ist!
Das ist der Auftrag der Apostel, die aufgrund des Erntefiebers Jesu in alle Lande und zu allen Generationen entsandt werden. Sie sollen erleben, was Jesus nach seinem Blick auf die weiß-wogenden Felder von Samaria bei Johannes (4,37f) sagt: „Hier ist der Spruch wahr: Der eine sät, der andere erntet. Ich habe euch gesandt, zu ernten, wo ihr nicht gesät habt…“
Was sie ernten sollen? – Die Saat, die mit Mose und den Propheten, mit der Armengesetzgebung und dem Gerechtigkeitsethos des Alten Testaments in die Welt implantiert worden ist.
Sie sollen zur Reife bringen und ernten, was wir eben miteinander gebetet haben: Dass endlich Rechtstreue auf dem Mist der korrupten Welt wachse und dass die Atmosphäre des Himmels, der keine Privilegien, sondern nur Gemeinschaft kennt, sich im Irdischen verströmt und Lebensgrundlage für alle wird (vgl. Ps.85,12).
Daran – an dieser Saat vom Sinai, in den Furchen und Spuren des nach Gerechtigkeit brüllenden Bauernpropheten Amos, mit dem Schmachten des Joel, der Hungersnot in der Heuschreckenzeit litt und brennend nach Geist dürstete (vgl. Joel 1+2), im Hegen der Hoffnungssaat des Jeremia, der Neues unter den Pflug nahm (vgl. Jer.4,3) – … daran gilt’s zu arbeiten.
Das gilt’s zu bestellen und zu ernten.
Denn das ist die apostolische Mission, zu der Jesus seine Zwölf und deren Nachfolger und damit uns alle entsendet, die wir hier sitzen, nicht um die Hände in den Schoß zu legen, sondern um Auftrag und Werkzeug zu empfangen.
Wir sollen im Auftrag des Herrn der Erde die weltweite Ernte des Segens befördern.
Die Zwölf, deren Mission und Dienst sich vom Ernteseufzer Jesu, von seiner Arbeitsungeduld mitten unter den weit ausgebrachten und dringend nötigen Saaten des Himmelreichs für die Erde herleiten, werden feierlich mit Namen genannt und ihre Ackerflur wird zunächst ebenso feierlich abgegrenzt: Es ist das Gebiet Israels, in dem sie predigen, heilen, wecken, kämpfen, therapieren und einfach ungeschützt und unverteidigt und für sich selber schlicht bedürfnislos für alle Bedürftigen und deren Bedürfnisse dasein sollen.
Dass es aber nicht nur bei diesem einen Flurstück für die Ernte des Reiches und des Rechtes Gottes bleiben sollte, dass also nicht nur für Israel Gerechtigkeit und Segen wachsen und reifen sollen, das steht schon in Israels Bibel selbst. In jenem entscheidenden Kapitel, in dem das Liebesgebot sich findet, das wir allzu schnell als Jesu neues Gebot identifizieren, während es doch das Gebot des Vaters ist, das Jesus verkörpert und erfüllt, … in jenem entscheidenden Kapitel 3.Mose 19 also, in dem es heißt: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, da heißt es vorher (3.Mose 19,9): „Wenn ihr aber die Ernte eures Landes einbringt, sollt ihr nicht alles bis an die Ecken des Feldes abschneiden, auch nicht Nachlese halten, sondern sollt es den Armen und Fremdlingen lassen. Ich bin der HERR, euer Gott.“
Jedes Feld und jeder Acker in Israel weisen also über sich hinaus und dienen von Anfang an auch den Ansprüchen der Anderen, der Fremden, der Menschheit aller Hecken und Zäune.
Die Fluren und Gemarkung Israels, mit ihren Rändern für alle sind also eine landwirtschaftliche Topographie der Ethik, die von Ackerrain zu Ackerrain seit den Tagen Josuas predigen soll: „Kommt her zu mir alle! Ich will euch erquicken! Kommt her, kauft und esset, kommt her und kauft ohne Geld. Tut euren Mund weit auf, ich will ihn füllen. Ich will euch mit dem besten Weizen speisen und mit Honig aus dem Felsen sättigen!“ (vgl. Matth.11, 28 / Jes.55,1 / Ps.81,11.17).
Ernte für alle.
Segen in Fülle.
Zufriedenheit ohne Beschränkung von fremder Seite und Versöhnung ohne Ausnahme des Fremden: Das ist es, was Jesus durch den „Sommer seiner Gnad“ (vgl. EG 503,13) vorantreiben und von den Seinen zu Garben gebunden, auf Hocken gesetzt, in die Scheuern der Menschheit gebracht sehen will! ——
… Aber der Blick stockt. Der Magen grimmt. Die Faust ballt sich unwillkürlich, wenn wir heute die Ränder des Ackers Israel in den Blick nehmen:
Den Gazastreifen. … Die mit menschenverachtender Brutalität Ausgehungerten. Die Kugeln empfangen, wo sie auf Getreide warten. Die verzweifelt mit leeren Gefäßen zur Nahrungsausgabe laufen und nie wieder den Hunger spüren werden, der sie da in die Todesfalle lockte. … Hin mit der Schüssel; heim nur im Sarg. …
Die Faust ballt sich in der Tasche. Im Mund läuft’s bitter zusammen. Das Herz verkrampft, wenn wir auf den Feld- und Tellerrand unseres eigenen Lebens schauen:
Die Bosnier in den weiß markierten Massengräbern, die uns vor dreißig Jahren schon nicht interessierten. Die Ukrainer, die wir heut vergessen. Die Flüchtlinge, die bald kentern, wo wir baden werden. Die Hoffnungslosen, die nirgends in den Festungen eines letzten Rests von Weltordnung mehr Aufnahme finden sollen. Der Reichtum, der das Essen hier lieber entsorgt und in Amerika lieber massenhaft vernichtet, als dass die Bedürftigen bei der Tafel und die Notleidenden auf dem Globus sich daran sättigten.
Pfui!, Pfui!, Pfui! – Wahrhaftig: Die Ernte ist groß. Nur der Arbeiter sind wenige!
Bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende!
Einen Petrus gegen die Neo-Faschisten in Rom und in Thüringen und überall im christlichen Abendland, wo sie das Kreuz auf den Kopf stellen[i].
Einen Andreas, der in Griechenland die Flüchtlingsströme schützt.
Einen Jakobus, der die Pilger und die Leute der Straße in allen ihren Lebensgefahren segnet.
Einen Johannes, der nicht lügen, nur lieben kann.
Einen Philippus, den die Legende am Schwarzen Meer sucht, wo die Wirklichkeit einen Botschafter des Friedens braucht.
Einen Bartholomäus, der die Armenier und einen Thomas, der die Inder vor den interreligiösen Intoleranzen bewahrt.
Einen Matthäus, der Äthiopien, Süd-Sudan und Jemen aus dem Abgrund ihrer Bürgerkriege führt, und einen kleinen Jakobus, der die riesige Weltbevölkerung der kleinen Leute vor Missachtung und Verdrängung bewahrt.
Einen Simon und einen Judas Thaddäus, die ihre uralte Nähe zum Iran und zum Irak dort zu neuen Anfängen des Guten verwandeln.
… Und einen Judas Ischariot … für uns. … Für uns, die wir den Herrn der Ernte so oft im Stich lassen. Die seinen Erfolg wollen, aber nicht seine Mühe.
Ja, Herr, sende viele Arbeiter in die Ernte. … Groß wie sie ist.
„Wen soll ich senden?“, spricht Er da, nicht anders als einst bei Jesajas Berufung (vgl.Jes.6,8).
Und der antwortete:
„Hier bin ich. Sende mich!“
Amen.
EG 254, 1 + 2 + 4 („Wir wolln uns gerne wagen…“)
[i] Die uralten Legendenüberlieferungen, aber auch historische Erkenntnisse über die Missionsgebiete und die Stätten der Wirksamkeit und Martyrien der Apostel geben Anlass, die ursprüngliche Entfaltung des christlichen Zeugnisses und Dienstes mit heutigen Brennpunkten globaler Krisen und Not in Beziehung zu setzen.
4.S.n.Tr., 13.07.2025, Luk.6,36-42, Stadt- und Tersteegenkirche, Dr. Petra Brunner
Liebe Gemeinde,
Unser Predigttext [Lukas 6, 36-42] gehört zur Bergpredigt, im Lukasevangelium heißt sie die Feldrede Jesu. Die Bergpredigt, die Feldrede, das ist die große theologische Rede Jesu in den Evangelien über die Ethik:
Wie sollen wir leben in der Gemeinde? Wie sollen wir leben in der Welt? Wie sollen wir uns verhalten?
Es geht um unser ethisches Handeln in der Welt. Aber es ist nicht einfach ein Vortrag von Jesus: Du sollst… du musst und Gott gebietet dir.
Nein unser Predigttext fängt erstmal mit der Barmherzigkeit Gottes an. Gott ist barmherzig, deswegen sollen wir auch barmherzig sein.
Gott ist barmherzig, und das zieht sich durch das ganze biblische Zeugnis, das zieht sich durch das Leben unserer Glaubensvorbilder, das zieht sich durch unser Leben.
Wir denken, daran, dass Gott sein Volk aus der Gefangenschaft führt. Im Exodusbuch heißt es „, HERR, Gott ist barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue“
Gott ist bewegt von rahamim; Rahamim ist hebräisch: ist das Herz Gottes, das sich bewegen, anrühren und verändern lässt von seiner Welt und seinen Menschen.
Wir hören Gott fasst öfter mal den Plan Gericht zu halten und schickt Propheten wie Jona los. Und dann sagt Jona: „Denn ich wusste, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist und lässt dich des Übels gereuen.“
Gottes Herz ist angetrieben von seiner Rahamim, seiner Barmherzigkeit;
Gottes Rahamin beschreibt die Bibel als noch größer als die größte Elternliebe:
„Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen.“
Gottes Rahamim, lässt Raum für uns;
Gottes Liebe lässt Raum für das Volk Israel seinen Weg in die Freiheit zu gehen, lässt Raum für die Menschen in Ninive sich zu ändern, lässt Raum für das Kind seine eigenen Wege zu gehen. Gottes unendliche Barmherzigkeit ist ein liebendender, begleitender Zuspruch für uns. Das ist die Grundlage von allem. Gottes Zuspruch für uns.
So fängt der Text mit den ethischen Handlungsanweisungen an. Also bevor Jesus sagt: wie wir uns verhalten sollen, was wir tun sollen und was geboten ist. Sagt er: Geht noch einmal einen Schritt zurück:
Der Zuspruch ist: Gott ist barmherzig zu euch
Und von da ergibt sich Gottes Anspruch an uns:
Seid barmherzig, wie Gott barmherzig ist.
Dabei ist es jetzt kein Anspruch; jetzt endlich mal was zu leisten; stark zu sein, diszipliniert zu sein; sondern unsere Barmherzigkeit hat immer als Quelle Gottes Barmherzigkeit. Gottes freie Beziehung zu uns, ermöglicht uns eine freie Beziehung zu anderen. Weil wir bei Gott nicht perfekt sein müssen, deswegen müssen die anderen auch nicht perfekt bei uns sein.
Man kann sich das ganz gut mit den Sternen und der Sonne vorstellen.
Die Sterne haben selber keine Lichtquelle, aber sie leuchten, weil sie im Licht der Sonne erstrahlen und so soll es mit uns Christ:innen sein. Gott leuchtet uns an, ist barmherzig mit und wir können abstrahlen in unserem Verhalten auf andere.
Wir können barmherzig sein; den anderen vergeben und Platz lassen für die Entwicklung der anderen. Die anderen in der Gemeinde und in der Welt nicht durch unseren vorschnellen Urteile, Stereotype und Meinungen aburteilen.
Wir müssen das nicht in uns selber tragen; wir sind selber in einer Beziehung zu Gott, Gott die Sonne, gibt uns Barmherzigkeit und Gnade, deswegen können wir davon weitergeben.
Das ist der Anspruch dieses ethischen Textes hier im Lukas-Evangelium wird weiter in den Bildern vom Balken expliziert. Der Anspruch ist: Selbstkritisch zu bleiben, den Balken bei sich selbst im Auge zu sehen und sich nicht auf die kleinen Splitter bei den anderen zu fokussieren.
Und barmherzig zu sein mit den anderen, sie nicht zu verurteilen und sie nicht zu verdammen und sie einfach zu vergessen.
Das ist der Anspruch.
Also das ist die Reihenfolge:
Zuerst der Zuspruch Gottes: Gott ist barmherzig mit dir; du bist sein Kind; ihr seid sein Kind; ihr könnt euch entfalten.
Und davon ausgehend sein Anspruch:
Seid auch barmherzig, seid selbstkritisch und richtet nicht; verurteilt nicht, Bleibt im Kontakt, bleibt in Beziehung auch und gerade mit denen die ihr so richtig doof findet.
Und dann weil es Gott ist, dann ist es nicht einfach vorbei: Zuspruch – Anspruch und dann fertig.
Nein Zuspruch- Anspruch und dann kommt Gott noch einmal, dann verspricht Jesus.
Das wird nicht alles sein, denn dann wenn ihr schenkt!
Schenkt, dann wird Gott auch euch beschenken:
Ein gutes Maß wird euch in den Schoß geschüttet –
festgedrückt, geschüttelt und voll bis an den Rand.
Die Logik der Beziehungen mit Gott ist anders als die Logik dieser Welt, die sich durch Reziprozität auszeichnet. So wie du mir, so ich dir. Immer genau überlegen wieviel mir der andere gegeben hat; wo ich auch mal was zurückgeben muss; aber nicht zu viel aber auf keinen Fall zu wenig… so funktionieren wir oft oder so funktioniert die scharfe Tauschlogik des Kapitalismus- alles erarbeiten und vermeintlich gerecht tauschen.
Bei Gott gibt es zuerst den Zuspruch seiner Barmherzigkeit, dann den Anspruch und dann nochmal das Versprechen von einer großen Belohnung, wenn ihr schenkt, wenn ihr großzügig und barmherzig seid, dann wird Gott euch den ganzen Schoß vollschützen; übervoll; das ihr mehr habt als ihr brauchen könnt.
Gott spricht uns zu; Gott schenkt uns alles, was wir brauchen; wir sind frei barmherzig zu handeln.
Amen.
4.S.n.Tr., 13.07.2025, 1.Thess.5,21, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Text: „Prüft alles, und behaltet das Gute.“ (1.Thess.5,21)
Liebe Gemeinde,
wohl keiner hier unter uns hat nicht schon wenigstens eine hinter sich gebracht: eine Prüfung. Und wahrscheinlich erinnern sich die allermeisten auch an das Gefühl, mit dem sie dabei umgehen mussten: Prüfungsangst.
Ob es die Abi-Klausuren waren oder die Examensprüfung zum Abschluss der Berufsausbildung oder die Führerscheinprüfung: dieses Gefühl, jetzt geht es um Alles oder Nichts – das ist nicht angenehm. Von anderen geprüft zu werden, darauf können wohl viele gut verzichten.
Ums Prüfen geht es in der Jahreslosung aus dem 1. Thessalonicherbrief: „Prüft alles, und behaltet das Gute.“
Hier geht es nicht darum, dass wir geprüft werden, sondern wir sind aufgefordert, selbst zu prüfen.
Doch: Wen oder was sollen wir prüfen? Und was sind die Kriterien, nach denen wir prüfen sollen? Und zu welchem Zweck und Ziel? Geht es um den richtigen Glauben? Oder um das richtige Leben?
Prüft alles!
Eine ziemliche Herausforderung – gerichtet nicht an die Spezialisten, an die Fachleute, sondern an jede und jeden einzelnen. Der Glaubens- und Lebens-TÜV kann nicht an eine KI delegiert werden, sondern erfordert eigenes Nachdenken und Entscheiden, eigene Verantwortung.
Doch - nach welchen Kriterien sollen wir denn alles prüfen?
Dazu geben uns der Epheserbrief und der 1. Johannesbrief folgendes an die Hand:
„Prüft bei allem, was ihr tut, ob es dem Herrn gefällt!“
(Eph.5,10)
„Prüft die Geister, ob sie von Gott sind.“ (1.Joh.4,1)
Der Maßstab, die Kriterien sind also nicht irgendwelche, sondern sie müssen in Einklang stehen mit dem, was Gottes Wille ist. Mit dem, was Gott für alle seine Menschenkinder will, für unser Leben hier auf dieser Erde.
Es geht nicht darum, irgendwelche Glaubenssätze oder persönliche Überzeugungen für gut zu halten, sondern sie müssen daraufhin geprüft werden, wie sie sich auswirken auf unser eigenes Leben und auf unser Zusammenleben. Es gibt hier keine Trennung zwischen Glaube und Leben, zwischen Religion und Politik.
Unseren Mitmenschen gegenüber kritisch zu sein, festzustellen, wo sie falsch liegen mit ihren Ansichten, wo sie falsche Entscheidungen getroffen haben, das fällt uns im Allgemeinen leicht. Viel leichter jedenfalls, als den Blick zuerst einmal auf uns selbst zu richten, uns selbst zu prüfen und uns kritisch zu hinterfragen. Doch genau darum geht es zuerst. Wie es Jesus in der Bergpredigt auf den Punkt gebracht hat: „Was siehst du den Splitter im Auge deines Nächsten und den Balken in deinem eigenen Auge siehst du nicht?“
Der Apostel Paulus fordert deshalb in seinen Briefen an die Korinther und Galater alle Gemeindeglieder auf: „Jeder soll sich selbst prüfen.“ (1.Kor.11,28; 2.Kor.13,5) und „Jeder prüfe sein eigenes Werk.“ – sein eigenes Tun und Verhalten (Gal.6,4). Schaut zuerst in den Spiegel, ermahnt uns Paulus, bevor ihr euren kritischen Blick auf andere richtet. Zuallererst ist jeder für sich selbst verantwortlich. Macht euch erst einmal klar, weshalb ihr etwas tut, wie ihr es tut und genauso: macht euch klar, warum ihr etwas nicht tut. Und dann schaut, ob euer Tun wirklich Gutes hervorbringt – für euch und für andere. Und genauso: ob eure Tatenlosigkeit gut war oder nicht.
Und ebenso gilt es, eigene Einstellungen und Haltungen kritisch zu hinterfragen. Wo sitze ich Vorurteilen auf, wo sind Befürchtungen im Spiel, etwas zu verlieren?
Gerade in unseren Zeiten ist die Bereitschaft, sich selbstkritisch zu hinterfragen, unerlässlich. Denn von überall prasseln Meinungen auf uns ein, die uns auf ihre Seite ziehen wollen, die medialen Influencer in den social Media (Instagram, tiktok, X) und auch die Meinungsmacher in Parteien und Vereinigungen. Alle wissen, dass man Triggerpunkte ansprechen muss, um Follower zu gewinnen. Die AfD hat ausgesprochen erfolgreich die Triggerpunkte „Angst vor Fremden“ und „Angst vor Wohlstandsverlust“ eingesetzt. Aber Angst ist ein schlechter Berater. Genau hinzusehen und hinzuhören und sich der Mühe des eigenen Nachdenkens unterziehen, aus den Fehlern und Versäumnissen unserer Vorgängerinnen und Vorgänger, aus der Geschichte zu lernen, das braucht es, um verantwortlich entscheiden zu können – mit Blick auf sich selbst und auf die Gesellschaft.
Kommen wir nun zu der zweiten Satzhälfte unserer Jahreslosung: „behaltet das Gute.“
Da steht nicht: behaltet das, was euch lieb ist;
auch nicht: behaltet alles, was ihr habt;
und nicht: behaltet, was für euch von Vorteil ist.
Das mit dem Behalten ist ja so eine Sache.
Da geht es um Materielles genauso wie um Spirituelles.
Um Gewohnheiten, Traditionen, um Überzeugungen.
Das betrifft jeden Menschen in unterschiedlicher Intensität. Was das Materielle angeht, so war der Homo Sapiens über Jahrhunderttausende Sammler und Jäger. Das hat uns bis heute genetisch geprägt. Aber anders als unsere Vorfahren, die sammelten und jagten, was sie zum Leben, ja mehr zum Überleben brauchten und selbstverständlich alles miteinander teilten (die Archäologie und Paläontologie hat dafür viele Beweise gefunden), sammeln wir heute in unseren konsumorientierten Gesellschaften individuell jede und jeder für sich so viel, dass wir, dass unsere Erde daran zu ersticken droht.
In spiritueller Hinsicht sieht es etwas anders aus, aber damit nicht viel besser: die einen halten einfach an den religiösen Traditionen und Vorstellungen fest, in denen sie großgeworden sind – „das war schon immer so, das haben wir schon immer so geglaubt“ – und sind unfähig und unwillig, einzusehen, dass es Kennzeichen eines lebendigen Glaubens, einer lebendigen Religion ist, dass sie sich verändert, verwandelt, wie alles Lebendige, dass Altes abgelegt werden muss, damit Neues wachsen kann. Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die zu ihren eigenen Wurzeln keinen Kontakt mehr haben und die jedes echte oder vermeintlich echte spirituelle Angebot begierig aufsaugen und sich ihren eigenen Glaubenskosmos daraus zusammenstellen. Während es für die „Traditionalisten“ heißt: prüft alles und legt ab, was euch am Wachsen hindert, - heißt es für die anderen: prüft alles, und schaut, was euch wirklich erdet und mit anderen verbindet, verliert euch nicht im Überangebot.
„Behaltet das Gute.“
Das Gute ist das, was gut für mich und gut für dich ist,
was der Gemeinschaft guttut.
Das Gute ist, was dem Leben aller dient.
Das Gute ist unteilbar, es gilt global.
Das Gute ist, was die Schwachen und die Starken zusammenhält.
„Prüft alles, und behaltet das Gute.“
Liebe Gemeinde, vielleicht haben Sie schon gemerkt, dass es um etwas grundlegend anderes geht, als darum, den Inhalt eines online bestellten Pakets zu sichten, um dann alles, was nicht gefällt, zurückzuschicken.
„Prüft alles, und behaltet das Gute.“
Das kann sich als eine dramatische Herausforderung erweisen, die das ganze Leben betrifft und es mitunter auf den Kopf stellt.
Dann nämlich, wenn Erkenntnisse, die man gewonnen hat, einen nicht mehr einfach weiter so machen lassen. Wenn man erkennen muss, dass das Gute einen aus der Komfortzone herausruft, hinein in Konflikte, einen richtig in Schwierigkeiten bringen kann. Wenn man mit dem Glauben ernst macht, der einen in die Verantwortung ruft.
Im letzten Monat ist mir ein Dokument zugänglich geworden, das genau davon Zeugnis ablegt: dass Christenmenschen diese Verantwortung übernommen haben – obwohl sie sich damit persönlich in große Gefahr gebracht haben.
Unter der Überschrift „Christus und dem Evangelium treu bleiben“ haben Geistliche und Laien der Russischen Orthodoxen Kirche, die in Russland leben, aber den Angriffskrieg Putins ablehnen ein Glaubensbekenntnis verfasst und am 7. Januar dieses Jahres veröffentlicht, dem für die russische Orthodoxie meines Erachtens eine ähnlich hohe Bedeutung zukommt, wie 1934 der Barmer Theologischen Erklärung für die evangelische Kirche in Deutschland. Da die Verfasser allen Grund haben, sich damit der Verfolgung seitens der Obrigkeiten sowohl des Staates als auch ihrer Kirche auszusetzen, sahen sie sich genötigt, auf jegliche Hinweise auf die Autorenschaft zu verzichten.
„Wir, Kleriker und Laien, Kinder der Russischen Orthodoxen Kirche … glauben und bekennen, dass wir alle, unabhängig von den irdischen Umständen und den Forderungen irdischer Machthabender, aufgerufen sind, vor der Welt Zeugnis für die Lehre Jesu Christi abzulegen, und immer abzulehnen, was mit dem Evangelium unvereinbar ist. Keine irdischen Ziele oder Werte können von Christen über die oder anstelle der Wahrheit gesetzt werden, die in der Lehre, dem Leben und der Person Jesu Christi offenbart wurde.“ heißt es in der Präambel. Dann folgen 8 Artikel, bestehend aus einer Überschrift und Erläuterungen:
- ÜBER GOTT: Über das Gebot „Du sollst nicht den Namen des Herrn, deines Gottes missbrauchen“
- ÜBER DAS REICH GOTTES: Über die Unzulässigkeit der Vermischung dessen, was „Gottes“ und „des Kaisers“ ist, sowie die Unzulässigkeit der Verwandlung der Kirche in ein Instrument irdischer Machthabender
- ÜBER DIE MENSCHENWÜRDE: Über die vorgebliche „Häresie der Menschenverehrung“ und die Unzulässigkeit, den Menschen als Verbrauchsmaterial zu missbrauchen
- ÜBER DIE GLEICHHEIT DER VÖLKER VOR GOTT und die Unzulässigkeit der nationalen Selbstverherrlichung
- ÜBER DAS LEBEN NACH DEN GEBOTEN CHRISTI und dessen Ersatz durch den „Kampf für traditionelle Werte“
- ÜBER DIE CHRISTLICHE NÄCHSTENLIEBE und deren Ersatz durch die Predigt von Gewalt und „Heiligem Krieg“
- ÜBER DIE KIRCHE CHRISTI: Über die „Vertikale der Macht“ und das Vergessen des Synodalprinzips als Entstellung des kirchlichen Lebens
- ÜBER DEN VERSÖHNUNGSDIENST als die wahre soziale und politische Sendung der Kirche
Da die Artikel viel zu umfänglich sind, um sie im Rahmen einer Predigt zu verlesen, habe ich sie vervielfältigt und bitte
Sie darum, sie sich am Ausgang mitzunehmen. Sie erinnern uns daran, dass auch für uns sich angesichts der gesellschaftspolitischen Entwicklungen schneller als gedacht eine Situation ergeben kann – im Gespräch mit Nachbarn, in der Straßenbahn, im Verein, im beruflichen Leben, auch im Freundeskreis und in der Familie – wo wir „Farbe bekennen müssen“. Und deshalb sollten wir uns der Herausforderung der Jahreslosung stellen:
„Prüft alles, und behaltet das Gute.“
Wer alles prüft und das Gute behält, der kann eben zum Bösen, zu Unrecht und Hass nicht schweigen. Das Gute ist nicht teilbar in weltlich und geistlich. Es ist nicht aufteilbar auf wir hier – und die anderen dort.
Das Gute ist das, was gut für mich und gut für dich ist,
was der Gemeinschaft guttut.
Das Gute ist, was dem Leben aller dient. Lokal und global.
Dafür steht Gottes Wille und sein Reich.
Und um sich dafür einzusetzen, hat er uns mit Christi Geist ausgerüstet.
Vertrauen wir ihm – und trauen wir uns, verantwortlich zu reden und zu handeln.
Amen.
3.So. n. Trinitatis /Heimsuchung Mariae, 06.07.2025, Stadtkirche, Kantatengottesdienst zu BWV 147: "Herz und Mund und Tat und Leben" mit Lukas 1, 39 - 56 & 1.Timotheus 3,16, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 6.VII.2025 - 3.n.Trin. / Mariæ Heimsuchung
Kantatengottesdienst[i] BWV 147 / Lk.1, 39 – 56 / 1.Tim. 3,16
Liebe Gemeinde!
Wann fangen „Herz und Mund und Tat und Leben“ an?
Fragen wir ruhig medizin-ethisch.
Und schon sind wir mitten in der aktuellen politischen Debatte, ausgelöst durch eine Nominierung zum Bundesverfassungsgericht, die die AFD und ihresgleichen ablehnen. Eine Debatte, in der sich das furchtbare und zugleich lächerliche Dilemma unserer Tage wie folgt auftut: Weil Idioten, Schurken oder Demagogen etwas sagen, kann kein redlich denkender und moralisch urteilender Mensch mehr die von solchen Seiten aufgegriffenen Positionen teilen.
In diese Schachmatt-Falle gerät nur, wer die Spielregel akzeptiert, dass das Gute nicht auch von Bösen und die Wahrheit nicht auch von Lügnern genutzt und geäußert werden können.
Wer diesen Kurzschluss als die ohnmächtige Torheit, die er ist, erkennt, kann seelenruhig nur sagen, was nach meinem Dafürhalten glasklar sein dürfte: Christlich betrachtet ist die säkulare, von der vorgeschlagenen Juristin vertretene Position, die Menschenwürde beginne ab Geburt, bestürzend falsch.
Sonst müssten wir mit der Kantate im Ohr, die so eindringlich vertont, was zwei Schwangere und zwei Ungeborene bewegt, und deren Bewegung bis zu uns überträgt, … sonst also müssten wir spätestens ab dem Rezitativ, in dem es heißt: „Johannes muss mit Geist erfüllet wer-den, / ihn zieht der Liebe Band / bereits in seiner Mutter Leibe, / dass er den Heiland kennt, / ob er ihn gleich noch nicht / mit seinem Munde nennt, / er wird bewegt, er hüpft und springet …“ – spätestens ab diesem Sprechgesang, in dem eine heutige, gegenwärtige Stimme dem embryonalen oder fœtalen Zeugnis des ungeborenen Täufers Ausdruck verschafft, … spätestens hier müssten wir diese Kantate wohl abbrechen und in jener vorsäkularisierten Welt belassen, die dann für uns versunken und verstummt wäre.
… Dann hören wir das „Jesu bleibet meine Freude“ eben nicht und summen es nicht innerlich mit und erleben nicht, wie es den Nachmittag und auch die kommende Nacht durchziehen wird, weil alle organischen und psychischen Wirkungen der umfassenden Lebensbeziehung zu Jesus, die die Kantate beschreibt und alle in der letzten Strophe ganz und gar in uns selbst berührten Stoffe und Wirkungen dieser Lebensbeziehung – Herzenssaft und Lebenskraft und Seelenwonne und finaler, endgültiger Jesus-Anblick – dann halt ewig nichtig wären.
…Was erst mit der Geburt beginnt, endet selbstredend auch mit dem Tod.
Und die Jesus-Freude, die Jesus-Bindung, die Jesus-Vitalisierung von Leib und Seele, von Herz und Mund und Tat und Leben, die in ihrer Grenzenlosigkeit nach christlichem Verständnis pränatal und postmortal real wirken … die sind dann eben auch gestrichen.
Herz und Mund und Tat und Leben, wie das Fest der Heimsuchung Mariæ sie uns zu sehen lehrt, sind keine Privilegien der Geborenen oder der Erwachsenen oder der Vernunftbegabten. Vielmehr haben wir sie gemeinsam mit einer weitaus größeren Schar, als das exklusiv verengte Menschenbild der Moderne uns weismacht!
Denn die säkularisierte Anschauung vom Menschen ist in Wirklichkeit eine der engsten Kategorien, die es gibt. Wo das Leben als Mensch nur durch „Partus“ und „Exitus“, wie die Medizin Geburt und Sterben nennt – wobei beides ja „Trennung“ und „Ausgang“ bedeutet – … wo menschliches Leben also bloß als biologischer Stoffwechselvorgang mit Bewusstseinsbeimischung zwischen diesen beiden Trennstrichen definiert wird, da fallen Unzählige raus: Wer noch nicht atmet, wer nicht mehr atmet, gehört nicht dazu. Nur die Heutigen zählen voll. Das erklärt unsere Geschichtsvergessenheit. Und erst recht jene Gleichgültigkeit, mit der heute die Lebensgrundlage der kommenden Geschlechter veruntreut wird.
Nicht zufällig ist ja auch das juristisch umstritten und vermutlich säkular auch unlösbar: Die Frage, ob Noch-nicht-Geborene Subjekte des Rechtes sein können, gegenüber denen Pflichten bestehen und Schuld entstehen kann.
Wenn wir aber biblisch-christlich gerade von den beiden werdenden Müttern, Maria und Elisabeth und ihren noch nicht gewordenen Kindern, Jesus und Johannes uns das Wunder und die Weite des Menschenlebens zeigen lassen, dann verstehen wir es plötzlich ganz anders: Partus und Exitus sind die beiden Gedankenstriche, die – wenn Gott will und wir Ihn lassen – die biologisch-stoffwechselhafte Phase unseres Lebens wie eine Parenthese, wie einen sinnvollen, aber nicht in sich vollständigen Einschub zwischen die weit größeren Bereiche des gottgewirkten und gottgeschenkten Daseins rücken: „Es war Dir mein Gebein nicht verborgen, als ich im Verborgenen gemacht wurde, … (ja), Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war …“ (Ps.139,15f) – Ist Er doch nicht der Toten, sondern der Lebendigen Gott, denn sie leben Ihm alle (vgl.Lk.20,38).
Leben als ursprünglich vorzeitliches und endloses Einbezogen-Sein in Gottes Gegenwart, … Leben also nicht als das auf das Abnabeln-bis-Abnippeln verkürzte Fragment, auf das man es heute beschränkt, … Leben nicht im immanent verengten, sondern im wirklich inklusiven Sinn ist also vorgeburtlich und jenseits des Todes das, was uns mit Unzähligen verbindet.
Weil es die Verbundenheit aller Lebewesen und über sie hinaus auch aller Geisteswesen und alles Nicht-Beseelten mit Gott bedeutet: Die Himmel erzählen die Ehre Gottes (Ps.19,2), alle physischen und physikalischen Mächte und Gewalten sind im Himmel und auf Erden Träger Seiner Herrlichkeit (vgl. Jes,6,3), denn von Ihm, durch Ihn und zu Ihm sind ja alle Dinge (Rö.11,36).
Das ist biblisches Bekenntnis, das in der ökologischen Schöpfungsgeschichte von den sieben Tagesstufen bis zur paradiesischen Welt wurzelt und dann von dort aus heranwächst (vgl. Kol.1,6.11) bis es kosmische Fülle erreicht (vgl. Eph.3,19; 4,13) und in Christus den Erstling, das Haupt und die Beständigkeit sämtlicher atomkleiner Elemente und überirdischer Schönheiten und der psychisch-somatischen Segensenergie des gesamten Universums bekennt: Alles ist und alle leben aus Einem.
Aus Gott allein.
Ewig.
Keine zweite Potenz. Keine Anti-Kraft. Kein Zerfallsgesetz.
„Wie es war im Anfang, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit“: Gott alles in allem (vgl.1.Kor.15,28).
Und diese Grundeinheit, diese bleibende Einheit, die weder der Tod als Möchtegern-Beender, noch die Sünde als deren versuchte interne Aushöhlung, noch der Satan als der überall Totalverwirrung anstrebende Widersprecher lösen können, … dieser, dem Ursprung in Gott geschuldete Vorrang des Lebens in allem - noch vor der Zeit!, … dieser, dem Ursprung in Gott geschuldete Vorrang des Lebens in uns allen - noch vor der Geburt!, … dieser, dem Ursprung in Gott geschuldete Vorrang des Lebens nach allem - auch nach der Sterblichkeit! … diese Unlösbarkeit der Lebensverbindung zu Gott: Sie ist das gottselige Geheimnis, das nach dem alten Hymnus im Fleisch offenbart ist und sich dann durch alle anderen Bereiche und Sphären und Räume des Kosmos – durch das Reich des Spirituellen und der intellektuellen Kommunikation und der Menschheit und der Materie hindurch – fortsetzt bis zurück zum Ursprung in Gott.
Kündlich groß ist das gottselige Geheimnis – des Lebens, das in Gott wurzelt – offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt unter den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit. ———
Nun klingt das aber trotz der Miniaturform dieses erstaunlichen frühen Hymnus wahrhaftig nach Giga-Theologie.
Es hat immer etwas Überdimensionales, am Ende gar etwas Absolutes oder Totales, wenn wir das Wunderbare am unverlierbaren Leben und an der unzerstörbaren Gottesbeziehung, in der alles steht, gedanklich so stringent zu entwickeln und logisch zu entfalten suchen.
Deshalb ist es ein solches Wagnis und ein solches Glück, dass die Bibel und die Kirche es nicht für nötig halten, die Gotteswirklichkeit auf allen Stufen und in allen Stadien dessen, was existiert, zu demonstrieren, sondern dass sie schlicht und unbekümmert erzählen und bekennen und dann auch besingen und darüber musizieren, dass der allgegenwärtige und unendliche Gott auch im Kleinen ist und dass Er trotz oder wegen Seiner Allgegenwart dennoch auch wächst und sich entfaltet.
Genau das ist ja das Festgeheimnis der Heimsuchung Mariæ, dieser Wanderschaft einer blutjungen Schwangeren – außerhalb aller grenzsetzenden Naturgesetze – in die Nähe und die Obhut ihrer alten, von allen menschlichen Erwartungen längst befreiten und kurierten Base Elisabeth, die trotzdem „in der Hoffnung“ ist.
Dieses Fest und seine Geschichte von Zweien, die das logisch nicht dürften und biologisch nicht können können und dennoch im Werden erblühen, … dieses Fest und seine vollendet schöne und doch nur - wenn auch mit letztem Ernst - Babysachen vertonende Bach-Kantate, … dieses Fest ist ein Wunderwagnis des biblisch-christlichen Glaubens an das Lebensgeheimnis Gottes und sein Wachstum.
Denn es sagt mit seiner Erzählung von den sich begrüßenden Müttern und den sich einander mitteilenden Ungeborenen drei unvergessliche und weltbewegende und glaubensgründende Dinge.
Es sagt erstens, dass Christus Christus schon als Embryo ist. Er ist so kurz nach seiner Empfängnis durch den Heiligen Geist schon der, dessen verborgene Ankunft auch Elisabeth mit Geist erfüllt macht, so dass sie das „Ave Maria“ anstimmt, das als Gruß an die Mutter seither neben dem „Vater-unser“ das Grundgebet der weltweiten Christenheit geworden ist.
Zweitens sagt die Erzählung von der, die den embryonalen Christus in ihrem Leib und in ihrer Liebe über das Gebirge trägt und in Gesang ausbricht, als der künftige Vorläufer ihres Kindes seinen Hinweisdienst auf Christus ekstatisch schon im Mutterschoß antritt, … zweitens also sagt diese Marienerzählung, dass sie - die kleine Magd - sich offenkundig doch gewiss sein darf, dass selbst der große Gott durch sie noch wachsen wird. So selbstverständlich klingt es in ihrem Mund – und ist auch uns so selbstverständlich geworden, ohne es je gewesen zu sein –, dass ein Mädchen voller Freude „MAGNIFICAT!“ jauchzt: „Ich mach’ Dich groß! Du kannst durch mich zunehmen und gestärkt und erhoben werden, … Du Heiliger und Starker und Gerechter! Ich, die Nazarenerin, … ich, Deine Maria der Freiwilligkeit und des Vertrauens, … ich, die Jungfrau bin es, durch die Deine uralte, ewige, einst Abraham und immer alle Armen rettende Macht genährt und gemehrt und in allen Generationen verehrt wird. Magnificat: Wachse, Gott!“
Und dann findet sich in der kleinen Erzählung von den beiden weiblichen Wachstums- und Weisheitsträgerinnen, in deren Innerem sich so unendlich Großes vollzieht, noch eine atemberaubende Anrede, in der tatsächlich alle Theologie und Christologie wurzeln, … eine Anrede, die knapp dreihundert Jahre später die etwas mehr als dreihundert Väter von Nicäa in jenem Bekenntnis formulierten, das sie zuerst der alten Elisabeth verdanken, die sämtliche Patriarchen und Propheten und Priester und Popen und Päpste und Pfaffen an Hellsicht und an bekennerischer Inspiration überragt.
… Elisabeth ruft: „Gebenedeit bist du unter den Weibern und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, … du, die Mutter meines Herrn!“
Das Mädchen vor ihr – so wagt Elisabeth sich hören zu lassen – ist „die Mutter meines Herrn“. Hebräisch: „Adonai“. Das Wort, das aus Ehr- und Gottesfurcht gelesen und gesprochen wird, wo der unaussprechliche Name Gottes in der Bibel Israels steht.
„Du bist die Mutter Adonais! … Du bist die Mutter des Gottes, der als Vater, Sohn und Geist nur Einer ist!“
Hier fängt in der Tat alles an, was an Theologie und Christologie sich im Fleisch geoffenbart hat, weil es im Heiligen Geist und aus Heiligem Geist gerecht empfangen wurde, … alles, was den Engeln und von Engeln verkündet und Hirten und Heiden gepredigt wurde in dieser Welt, … alles, was im Namen Jesu Christi den Menschen an Trost und Heil und Seligkeit gegeben ist und sie wie ihn zurück in das herrliche Reich des Vaters führt!
Hier fängt es an!
Bei der Jungfrau, die Gott wachsen lässt.
In dem Embryo, der Christus ist.
In dem noch Ungeborenen, der „Adonai“, mein Herr ist.
„Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt - nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater!“
Hier fängt es an.
Und wie sollte „Herz und Mund und Tat und Leben“ je aufhören, davon „Zeugnis zu geben“?
Hier fängt es an.
Wahrhaftig! … Wie sollte es nun jemals aufhören?
„Darum lass ich Jesum nicht / aus dem Herzen und Gesicht.“
Amen.
[i] Durch die im Mittelpunkt seiner Feier stehende Kantate BWV 147 floß das Proprium des Festtages vom 2.Juli – der „Heimsuchung Mariæ“ – mit dem dafür vorgesehenen Lesungs- und Predigttext in die Gestaltung dieses Gottesdienstes ein. Darum wird aus den Rezitativen Salomon Francks und den Choralstrophen Martin Jahns ebenso zitiert wie aus Evangelium und Epistel des Heimsuchungs-Festes.
1.S.n.Tr., 22.06.2025, Johannes 5, 39-47, Stadtkirche, Dr. Johannes Grashof
Ihr sucht in den Schriften, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie sind’s, die von mir zeugen; aber ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet.
Ich nehme nicht Ehre von Menschen an; aber ich kenne euch, dass ihr nicht Gottes Liebe in euch habt. Ich bin gekommen in meines Vaters Namen, und ihr nehmt mich nicht an. Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr annehmen.
Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, und die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist, sucht ihr nicht? Meint nicht, dass ich euch vor dem Vater verklagen werde; der euch verklagt, ist Mose, auf den ihr hofft. Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben. Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben? (Johannes 5, 39-47)
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!
Liebe Gemeinde!
Vielleicht ist jemand von Ihnen ein Influencer oder eine Influencerin. Also jemand, der oder die im Netz eine Community mit einem Herzensthema informiert oder unterhält: Lifestyle, Reisen oder veganes Kochen …
Vielleicht gehören Sie aber auch eher zu den Followern, die schon einmal einen Kanal abonniert oder auch nur ab und zu ein Like gesetzt haben.
Wie dem auch sei: Influencer gibt es nicht erst seit der digitalen Revolution. Es gab sie schon in der Antike, auch zu der Zeit und im Kulturzusammenhang des Jesus von Nazareth: Meinungsführer, die zu jedem Aspekt des menschlichen Alltags etwas Hilfreiches zu sagen hatten. Im Neuen Testament treten diese Influencer oft unter dem Begriffspaar der „Pharisäer und Schriftgelehrten“ auf.
Natürlich gab es damals auch Follower, die ihren Influencern nacheiferten. Auch Jesus war ein Influencer, der viele Follower hatte.
Und, klar: Jesus hatte auch Hater. Leute, also, die sahen, was er tat, es aber nicht gut fanden. Um solche Leute geht es in unserem heutigen Predigttext. Sie hatten Jesus beobachtet, aber dabei festgestellt, dass sein Tun nicht ihren Lebensvorstellungen entsprach.
Sie hatten davon erfahren, dass er im Zugangsbereich zum Jerusalemer Tempel, am sogenannten Teich Bethesda, einen seit 38 Jahren gelähmten Mann heilte. Wie auch immer Jesus das getan hatte – er hatte es an einem Sabbat getan. Das aber war – zumindest in den Augen seiner Gegner – ein Verstoß gegen das Ruhegebot für den Sabbat. Niemand durfte an diesem Tag eine Arbeit verrichten, weder Mann noch Frau, weder Mensch noch Tier, weder Einheimischer noch Ausländer – nachzulesen im 2. und auch im 5. Buch Mose. Jesus durfte man ruhig unterstellen, dass er dieses Gebot kannte, also wissentlich dagegengehandelt hatte.
Okay, werden wir heute vielleicht sagen, das war ein Streitthema – vor langer Zeit in einem bestimmten regionalen Kulturzusammenhang. Aber nicht mehr unser Problem.
Doch vielleicht liegt das Problem ganz woanders. In dem Redeabschnitt Jesu, um den es heute geht, wird der strittige Anlass – die Heilung am Teich Bethesda – mit keiner Silbe mehr erwähnt. Hier geht es inzwischen um viel Grundsätzlicheres. In der Passage taucht das entscheidende Stichwort auf: „Ewiges Leben“. Etwas, dass jenseits aller körperlichen Unversehrtheit liegt. Unverlierbare Lebendigkeit. Das, wonach zu suchen, sich vor allem anderen in diesem stets mit Defekten behafteten und unausweichlich dem Tod geweihten Leben lohnt. – Ewiges Leben!
Jesus gesteht seinen Kritikern zu, dass sie danach suchen. Sogar, dass sie an der richtigen Stelle danach suchen. Unstrittig. Für einen jüdisch sozialisierten Menschen – und das galt für Jesus selbst wie für seine Gesprächspartner – war der unergründliche Schatz, der das Leben in seiner ganzen Fülle erschloss, allein das in den heiligen Schriften des jüdischen Volkes überlieferte Wort Gottes. Und der Name „Mose“ stand hier als Chiffre für alles, was Gott unüberbietbar und für alle Zeiten gültig den Menschen eröffnet hat.
Ja, auch ihr sucht in den Schriften, das gesteht Jesus seinen Gesprächspartnern unumwunden zu. Aber. Offenbar finden sie nicht. Offenbar lesen sie am Skopus dieser Schriften konsequent vorbei. Denn, und jetzt kommt ein harter Vorwurf: Ihr nehmt Ehre voneinander an. Oder modern übertragen: Ihr seid Influencer, die ihre kommunikative Autorität und Reichweite als manipulatives Machtmittel einsetzen mit dem Ziel, Menschen in eurem eigenen Sinne zu beeinflussen. – Wenn sie es damals schon gehabt hätten, dann hätten sie dafür gewiss auch TikTok, Instagram und X genutzt.
Ich kenne euch, sagt Jesus, ihr habt nicht die Liebe Gottes in euch. Genau das haben sie bewiesen, als sie Jesus sein heilendes Handeln während eines Sabbats am Teich Bethesda vorhielten.
Natürlich hat Gott den Ruhetag geschaffen. Als Tag ohne Mühe und Arbeit. Aber das heißt dann positiv gesprochen: als Tag, an dem alle, wirklich alle an der ganzen Fülle des Lebens teilhaben dürfen, die Gott zuvor in sechs Tagen geschaffen hatte. An der ganzen Fülle des Lebens teilhaben – das heißt doch: ich darf einmal unbeeinträchtigt sein von den Mühsalen des Alltags, von Stress und Druck, ich darf mich einmal losgelöst fühlen von jeder arbeitsbedingten Funktionalisierung, natürlich auch befreit von jedweder Diskriminierung, ja, unbehindert von sozialen oder gesundheitlichen Einschränkungen jeglicher Art. – So darf ich Geschöpf unter Geschöpfen sein!
Und es müsste jedem frommen Menschen einen Stich ins Herz versetzen, wenn er einen Mitmenschen sieht, der daran gehindert ist – zum Beispiel, weil er seit achtunddreißig Jahren unter seiner Lähmung leidet. Achtunddreißig Jahre! Das sind hochgerechnet 1.976 Sabbate, an denen er von der Teilhabe an der Fülle des Lebens ausgeschlossen geblieben war, ausgeschlossen von den Lebensäußerungen der Kultur- und Kultgemeinschaft seines Volkes. Der Tempelbezirk war für ihn unerreichbar, die Feste dort fanden ohne ihn statt. „… im Hause des HERRN … die schönen Gottesdienste des HERRN (schauen)“ (Psalm 27,4) – keine Chance. Weil er dafür nicht einmal die vorgeschriebene kultische Selbstreinigung hinbekam.
Hatte Gott ihn vergessen? Nein, Gott hat keinen vergessen – auch ihn nicht. Aber Gott hatte den Gelähmten seinen Mitmenschen zur Aufgabe gemacht. Achtunddreißig Jahre hat sich offenbar keiner für diese Aufgabe zuständig gefühlt.
Und nun kommt jemand, der ihm nach 38 Jahren die Möglichkeit gibt, an diesem Sabbat an der Fülle Gottes teilzuhaben. Dieser Mann schenkt ihm nach fast einem ganzen Leben den Sabbat neu. Dieser Mann bringt an ihm den Sabbat an sein Ziel. Er vollendet an diesem Gelähmten das Schöpfungswerk Gottes. Er macht für ihn erlebbar und für alle anderen sichtbar, was die Intention der Weisungen Gottes in den Heiligen Schriften ist, für die auch der Name „Mose“ steht: die Liebe Gottes. Er macht uns vor, was unsere Aufgabe ist, unser einziger Lebenszweck: Dass Sie und ich, dass wir alle uns gegenseitig dazu einladen und dazu verhelfen, an der Fülle Gottes teilzuhaben – und so seine Liebe weitergeben.
Alle Weisungen Gottes in den heiligen Schriften dienen der Förderung einer Teilhabe am Leben in seiner ganzen Fülle. Gottes Weisungen machen unser Leben erst zu einem Leben, das diese Bezeichnung verdient. Und sie vergessen niemanden. Nur deshalb hat unser Leben die Chance, etwas anderes zu sein als ein Überlebenskampf aller gegen alle.
Und deswegen sagte Jesus damals ganz provokativ: Es ist Mose, der von mir zeugt. Weil ihr an mir sehen und erleben könnt, dass der Sabbat nur als Akt der Liebe Gottes recht verstanden ist. An diesem Tag haben wir nicht zu unterscheiden zwischen arbeiten gehen oder nicht. Das ist viel zu kurz gegriffen. Wir haben zu unterscheiden zwischen dem, was das Leben mindert und dem, was es erfüllt. Und uns dabei zu entscheiden, wo wir hinwollen. Der biblische Sabbat ist nicht nur das Ziel der Woche. Der biblische Sabbat ist Symbol für das Ziel unser Leben insgesamt, das da wäre: uns an allen Tagen unseres Lebens gegenseitig zu einem Dasein zu verhelfen, das schon den Glanz des ewigen Lebens widerstrahlt.
Und wenn wir uns als Jesu Follower verstanden haben, dann wissen wir: Das Beispiel unseres Influencers steht als Frage an uns im Raum. Und nach der einzig angemessenen Antwort müssen wir nicht lange suchen. Wir kennen sie tief in unserem Herzen. Sie lautet: Ich setze mich dafür ein, meine Mitmenschen an der Liebe Gottes und an seiner Fülle teilhaben zu lassen, wo es in meinen Kräften steht. Ob wir uns einsetzen für Flüchtlinge, engagieren bei der Tafel, beim Besuchsdienst oder der Nachbarschaftshilfe – es gibt unendliche viele Betätigungsfelder.
Und vielleicht sollten wir das Wichtigste nicht vergessen: das Haus Gottes mit den schönen Gottesdiensten des Herrn. Wo sonst, wenn nicht hier, gilt doch exemplarisch: Hier darf jeder und jede an der ganzen Fülle des Lebens teilhaben; unbeeinträchtigt von den Mühsalen des Alltags, von Stress und Druck, losgelöst von jeder arbeitsbedingten Funktionalisierung, befreit von jedweder Diskriminierung. Hier darf jeder und jede unbehindert von sozialen oder gesundheitlichen Einschränkungen Geschöpf unter Geschöpfen sein. – So wird der Gottesdienst zum Modell für unser Leben insgesamt. Und zum Abglanz des Ewigen Lebens.
Das ist der größte Schatz, den Gott uns, seiner Gemeinde, anvertraut hat! Lassen wir die Türen unserer Gotteshäuser weit offen, wann und wo immer wir können. Denn, ja, es lohnt sich, das Schauen der schönen Gottesdienste des Herrn mit immer mehr Menschen zu teilen.
Damit es viral geht.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
1.S.n.Tr., 22.06.2025, biblische Weisheit im Märchen, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Thema: „Vom Verlieren und Gewinnen, Loslassen und Geschenkt-bekommen: kein Neuanfang ohne Abschied.“
Biblische Weisheit im Märchen „Die Beutelratte, die sich fledermauste“ (Indiomärchen aus Südamerika)
„Erzähl mir keine Märchen“, hörte ich vor längerer Zeit eine Mutter zu ihrem etwa 6jährigen Kind sagen. Wir warteten auf die U79 und das Kind erzählte wohl von einer Begebenheit auf dem Schulhof, noch ganz davon beeindruckt. „Nein, das war so“, beharrte das Kind mit Nachdruck. Da näherte sich die Bahn und die Mutter nahm ihr Kind an die Hand, und so konnte ich leider ihre Erwiderung nicht mehr hören.
„Erzähl mir keine Märchen“ – sicher haben viele von uns diesen Satz schon gehört und vielleicht auch schon selbst an andere gerichtet – in dem Sinne, dass das Gehörte doch nicht wahr sein kann, dass es nicht passiert ist. Das Märchen als Synonym für Unwahrheit, für reine Fantasie - wenn man gutmeinend ist; für glatte Lüge - in negativer Betrachtungsweise.
Vielleicht etwas für Kinder, aber doch nichts für Erwachsene.
Und Märchen im Gottesdienst, ein Märchen gar statt eines biblischen Textes als Ausgangspunkt für die Predigt?
Ja, liebe Gemeinde, ein Märchen, das Jesus, wenn er es denn gekannt hätte, bestimmt mit seinen anderen Geschichten, den Gleichnissen weitererzählt hätte. Denn, und das möchte ich ihnen gerne heute morgen vermitteln, denn die Wahrheit, um die es im Märchen geht und um die es in den Geschichten von Jesus geht, die hat nichts mit zeitlich-räumlichen Fakten zu tun, sondern mit unserem geistig-seelischen Leben. Es geht darum, wie wir zu einem guten, wahrhaftigen Leben finden. In christlich-religiöser Sprache: Wie wir als Kinder Gottes leben können, die sich das Beispiel Jesu zu Herzen genommen haben, die im Bewusstsein ihrer Endlichkeit und vielfältiger Ohnmachtserfahrungen auf dieser Welt sich dennoch voller Zuversicht und Hoffnung daran machen, Auferstehung zu leben.
„Es war einmal eine Beutelratte, die war ihr altes Leben müde, da sagte sie sich: „Ich bin zu alt für das Rattenleben und zu langsam, meine Beine sind schwer und wollen nicht mehr. Es ist Zeit, dass ich mich verwandele. Aber was soll ich werden? Ich will im Dunkeln meine Wege finden, ohne dass man mich sieht. Soll ich also eine Schabe werden? Lieber nicht. Die Leute würden mich verachten und zertreten. Soll ich eine Schlange werden? Ach nein, dann wird man mich fürchten und hassen. Ich will eine Fledermaus werden! Die fliegt durch die Nacht und frisst reife Bananen!“
Und dann ging die alte Ratte daran, sich zu fledermausen. Mit ihrem langen Schwanz und ihren Hinterpfoten hielt sie sich fest an einem Zweig und hängte sich mit dem Kopf nach unten auf, wie das die Fledermäuse tun. Aber da bekam sie einen Schluckauf.
Eine Fledermaus, die vorbeiflog, hörte, wie sie schluckte und schluckte. Sie flatterte um die Ratte herum. „Was machst du denn da?“, fragte sie, „Willst du dich über mich lustig machen?“ – „Nein“, sagte die alte Ratte, „ich will mich nicht über dich lustig machen. Ich will mich fledermausen.“ – „Wir Fledermäuse haben keinen Schwanz“, sagte die Fledermaus. Da warf die Ratte ihren Schwanz ab und hielt sich nur noch mit den Hinterpfoten fest. – „Wir Fledermäuse brauchen keinen Beutel!“ – Da warf die Beutelratte ihren Beutel fort. – „Wir Fledermäuse haben Flügel!“ – Da dehnte und dehnte die Beutelratte ihre alte Haut und spannte neue Flügel aus. Die Fledermaus flog davon und sagte zu ihrem Volk: „Denkt euch, was ich gesehn hab‘. Dahinten ist eine Beutelratte, die sich fledermaust. Sie will sich verwandeln, um mit uns zu leben. Lasst sie in Ruhe, dass sie sich verwandeln kann.“ Da riefen alle Fledermäuse: „Eine Beutelratte, die sich fledermaust! Eine Beutelratte, die sich fledermaust! Los, los, das müssen wir sehen!“, und sie flogen alle dorthin und sahen die Beutelratte, die da hing und sich fledermauste.
„Ratte, Ratte, hast du dich schon verwandelt?“, fragten sie. – „Ja, verwandelt hab ich mich schon“, sagte die Ratte, „und jetzt möchte ich fliegen. Aber ich fürchte mich.“ „Fürchte dich nicht, Ratte!“, riefen die Fledermäuse. „Fliege! Es ist wunderschön.“ Die alte Ratte wollte gern fliegen, aber sie fürchtete sich und zitterte und war ganz schwer vor Angst und blieb hängen. „Hab keine Angst“, riefen die Fledermäuse, „wir werden dich das Fliegen lehren. Breite nur deine Arme aus, lass deine Flügel schwingen und dann lass dich fallen – und du wirst fliegen.“
Da spannt die alte Ratte ihre neuen Flügel aus, sie lässt sie schwingen, lässt sich los – sie fliegt! „Es ist wunderschön!“, ruft sie und fliegt davon durch die Nacht. Wir können sie nicht sehen, aber sie sieht uns auch im Dunkeln. Sie findet Bananen, mehr als genug, und die reifen, die frisst sie. So hat die alte Beutelratte sich gefledermaust. Ein alter Indianer hat’s erzählt. In seinem Land ist es geschehn.“
Dieses Indiomärchen aus Südamerika ist kein klassisches Zaubermärchen, sondern ein Weisheits-Märchen. Es geht um Verwandlung, die aber nicht von außen in Gang gesetzt wird – z.B. durch eine Fee oder einen Zauber - , sondern von innen her. Da sieht die alte Beutelratte ein, dass sich etwas ändern muss in ihrem Leben, ja, dass sie selbst eine andere werden muss, damit das Leben überhaupt für sie lebenswert bleibt und weitergehen kann.
Ursprünglich mag die Geschichte zu tun haben mit dem Rätsel des Sterbens und der Verwandlung im Tod; und da behält sie auch ihre Bedeutung. Aber sie macht Sinn auch in den vielen Lebensübergängen, die wir von Kindheit an durchschreiten. Und es gibt diese Übergänge nicht nur im individuellen Leben, sondern auch im größeren Kontext von Zeitgeschichte und gesellschaftlicher Entwicklung. Auch biblische Texte kennen diese verschiedenen Betrachtungsebenen. Zum Beispiel was die Rede von Auferstehung und ewigem Leben angeht: sie ist nie nur auf ein Jenseits nach dem leiblichen Tod hin zu verstehen, sondern gerade Jesus ging es auch immer um ein Aufstehen in diesem Leben, um es wahrhaftig, nämlich so, wie Gott es gewollt hat, zu leben.
Dieser Betrachtungsebene ist gerade für uns heute von entscheidender Bedeutung.
Schauen wir uns das Märchen einmal genauer daraufhin an, welche Anstöße es uns für unser Leben heute geben kann. Und wir werden entdecken: die göttliche Weisheit spricht nicht nur in den biblischen Büchern zu uns.
„Sie war ihr altes Leben müde.“ – heißt es von der Beutelratte. Dass einem das alte Leben über ist, dass man merkt, das geht so nicht weiter, das hat nicht unbedingt etwas mit dem Lebensalter eines Individuums zu tun. Das alte Leben, das ist das „normale, alltägliche Leben“ in der Form, wie Menschen aller Generationen es in unserer Gesellschaft heute leben. Geprägt von den Arbeits- und Lebensbedingungen, die nach dem Kriegsende 1945 unsere Gesellschaft bestimmt haben. Wirtschaftswunderjahre wurden uns beschert, Wirtschaftswachstum und ein Wohlstand, wie es ihn für so viele Menschen noch nie in der Geschichte der Menschheit gegeben hat. Und noch nie hat ein Volk in der Mitte Europas solange in Frieden leben können: 80 Jahre kein Krieg, keine Bomben, kein Luftalarm.
Doch so recht sich darüber freuen, es genießen, das kann kaum einer. Dazu sind die „Zeichen der Zeit“ viel zu beunruhigend. Jesus selbst hat seine Nachfolgerinnen und Nachfolger geradezu gedrängt, doch die „Zeichen der Zeit“ zu prüfen und entsprechend das eigene Verhalten, das Tun und Lassen darauf abzustimmen (Mt.16,3; Lk.12,56; Lk.19,42). Ein Weiter-So in der Hoffnung, „Et is noch immer joot jejangen“, das wäre fatal.
Die Beutelratte hat das begriffen und weiß: sie selbst muss handeln. Sie überlegt sich, wie es mit ihr weitergehen könnte, wie ihr Leben zukünftig aussehen könnte, was sie nicht will und was sie sich wünschen würde: ein besseres Leben in Freiheit und Fülle. Dafür stehen symbolisch die Flügel und die Bananen. Für dieses Ziel stellt sie ihr Leben auf den Kopf, lässt sich kopfüber hängen. Aber das ist nicht genug.
Um das Ziel zu erreichen, muss sie sich von bisher für sie wesentlichen Teilen ihres Lebens, ihres Selbst trennen, sie loslassen: den Schwanz und den Beutel.
Mich hat dieses Märchen hier sehr stark in seiner Symbolik angesprochen. Ja, es muss sich was ändern im eigenen Leben und in der Folge wird sich auch vieles ändern müssen in unserer Gesellschaft, ja, und auch darüber hinaus. Wir müssen bereit sein zu grundlegenden Veränderungen – jeder für sich und alle füreinander, damit ein gutes, wenigstens erträgliches Leben für alle Menschenkinder auf unserer Erde möglich wird und für die kommenden Generationen möglich bleibt. Es muss vieles auf den Kopf gestellt werden – unsere Lebensweise, unsere Weise zu wirtschaften, unser Verhältnis zu unseren Mitgeschöpfen, zu unserer Erde. Doch das geschieht nicht von allein und kann auch nicht „von oben“ angeordnet werden. Es braucht das aktive Mitmachen aller. Keine und keiner der bisher im Wohlstand Lebenden kann sich da in die Hängematte legen. Wir müssen bereit sein, liebgewordene und scheinbar selbstverständliche Verhaltensweisen abzulegen und uns von Überzeugungen zu trennen, die für die meisten Menschen in unseren westlichen Gesellschaften geradezu heilig sind: den Glauben daran, dass es ohne Wirtschaftswachstum nicht weiter geht, den Glauben an den technischen Fortschritt, den Glauben daran, dass jede und jeder seines Glückes Schmied ist.
Er muss weggeworfen werden, der Beutel, in den wir als Gesellschaft global gesammelt und gerafft haben – wobei seit vielen Jahren auch bei uns schon immer weniger davon profitiert haben, sind wir doch gesamtgesellschaftlich mit einem Rattenschwanz an Entwicklungen konfrontiert, die unsere Demokratie gefährden: prekäre Arbeitsverhältnisse, Obdachlosigkeit, Wohnungsnot, Pflegenotstand, Bildungsmisere, Anwachsen der Fremden-, ja Menschenfeindlichkeit.
Gutes Leben ist nicht teilbar. Insofern hat der Spruch „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Recht. Um das zu erkennen, braucht die Beutelratte die Hilfestellung der Fledermaus. Sie zeigt ihr aber nicht nur an, was sie loslassen muss, sondern weist sie auch darauf hin, was sie an sich selbst entwickeln und entfalten muss, um ihr Ziel zu erreichen: ihre alte Haut zu dehnen, um so an Flügel zu kommen.
Die Rolle, die die Fledermaus in diesem Märchen einnimmt, hat mich stark an die Rolle von Engeln in der biblischen Tradition erinnert. Sie fragt nach und interessiert sich für die Beutelratte, die da kopfüber mit Schluckauf hängt: „Was machst du denn da?“ – So begegnet der Engel der Hagar in der Wüste, als diese nicht mehr ein noch aus weiß: „Wo kommst du her und wo willst du hin?“ (Gen.16,8). Und sie ermutigt die ängstliche Ratte: „Fürchte dich nicht!“ Und wie der Engel Raphael den Entwicklungsweg des Tobias (Buch Tobit) begleitet, so begleitet die Fledermaus den Wandlungsweg der Ratte. „Breite nur deine Arme aus, lass deine Flügel schwingen und dann lass dich fallen – und du wirst fliegen.“
Mir fällt dazu die Begegnung Jesu mit dem Vater des unter Epilepsie leidenden Kindes ein, der in seiner Not nicht ein noch aus weiß und zu dem Jesus sagt: „Wenn du nur Vertrauen hast, ist alles möglich.“ (Mk.9,23) Vertrauen haben in Gott – was bedeutet das anderes als sich in Gottes Arme fallen zu lassen und so selbst zu erfahren: man wird gehalten, man braucht wirklich keine Angst zu haben – vor gar nichts. Solches Vertrauen verleiht wirklich Flügel, stärkt das Selbstvertrauen und macht mutig und getrost für ganz neue Schritte und Erfahrungen. Bereit auch zu einem neuen Lebensstil, zu einer neuen Einstellung zum Leben. Sogar das Dunkle und Bedrohliche lässt sich bewältigen – eine Erfahrung, die der Beter des 139.Psalmes so ausdrückt: „Finsternis ist nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.“ Die verwandelte Ratte fliegt und erfährt die Fülle: reife Bananen, so viele sie braucht.
Liebe Gemeinde, dieses Märchen lädt uns ein, darüber nachzudenken, wo wir uns auf den Weg der Verwandlung begeben müssen, damit dann auch unsere Gesellschaft sich wandeln kann und wir den fürchterlichen Rattenschwanz der Kollateralschäden loswerden, die unsere derzeitige Lebensweise nicht nur für uns, sondern auch für die globale Menschheitsfamilie zur Folge hat.
Das entspricht genau dem Ansatz der Verkündigung Jesu, der von seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern erwartet, dass sie das Salz der Erde sein sollen, dass sie wie der Sauerteig wirken sollen, der den ganzen Teig im Trog durchsäuert.
Dieser Prozess, das ist das Wirksamwerden und die Erscheinung des Reiches Gottes mitten unter uns.
Jesus hat daran geglaubt: die Verwandlung, die Umkehr des einzelnen wird die Verhältnisse in der Gesellschaft verändern, ja, das globale Miteinander der Menschheitsfamilie. Teilen wir doch seinen Glauben, lassen wir los, was uns festhalten will, dehnen wir unsere alte Haut, unsere alten Vorstellungen, was ein gutes und gedeihliches Leben angeht, bitten wir Gott um ein weites, weises Herz, um bereit zu sein für eine neue Weise zu arbeiten, zu wirtschaften und zu leben.
Hören wir dabei nicht auf die Bedenkenträger, und lassen wir uns nicht einlullen von denen, die von den herrschenden Verhältnissen profitieren und ihre Beutel nicht aus den Händen lassen wollen.
Hören wir vielmehr auf die himmlischen Stimmen, die uns immer wieder in dunklen Momenten zurufen: „Fürchte dich nicht! Fürchtet euch nicht!“
Amen.
Trinitatis, 15.06.2025, Mutterhauskirche, 2.Korinther 13,11-13, Jonas Marquardt
Predigt Mutterhauskirche Trinitatis - 15.VI.2025
2.Korinther 13, 11-13
Liebe Gemeinde!
Spring, sonst kommst Du nicht hin. – Schwer.
Nur ein Sprung, und Du bist da. – Leicht. ——
Das Einfache in seiner ganzen Tiefe.
Das Schwere ganz federnd.
Der Sprung, der als Brücke und Wagnis beides verbindet. …….
Diesen Dreischritt feiern wir heute. Den Dreischritt zu Gott. ——
Gott selbst ist Einer. Aber um Ihn in Seiner unergründlichen und unendlichen, in Seiner ufer- und maßlosen Tiefe und Weite, Höhe und Fülle zu treffen, müssen wir aus uns selbst heraus. Heraus aus der Enge und Erbärmlichkeit, heraus aus den Schranken und Grenzen unserer Herzen und Hirne. Heraus aus den Vorgaben und den Vorurteilen, in denen wir leben zu müssen meinen. Ohne die wir nicht glauben, sein zu können.
Doch wir können. … Wenn wir nur den Sprung wagen. Den Sprung über das Flachste und Gegenstandsloseste, den Sprung über das Dünnste und Haltloseste, den Sprung über das Leerste und Kraftloseste, das es gibt: Den Sprung über unsern eigenen Schatten.
Über den müssen wir.
Mussten alle. … ——
Wieso müssen wir über unsern Schatten springen, um Gott näher zu kommen?
Weil wir Menschen so viel über Ihn wissen, weil wir Ihm so viel vorgeben, so viel vorschreiben, so viel verweigern. Weil wir uns denken können oder eben für undenkbar erklären, wer und wie Gott sein dürfte. Und weil es uns jeweils - fromm oder kritisch, heidnisch oder orthodox – widerstrebt, Ihn einfach sein zu lassen, wie Er ist; Ihn anzunehmen, in allem, was Er anders will und anders kann als wir. Weil wir Gott beschränken, begrenzen und beschützen … und zwar einerlei, ob wir das bewusst wollen oder nicht.
Der Zweifel beschneidet Gott ebenso wie der kleine Glaube.
Das gescheite Bohren tastet Ihn ebenso an wie die gepflegte Gleichgültigkeit.
Der aggressive Atheismus macht sich seinen Nicht-Gott genauso töricht wie das religiöse Gemüt seinen Privat-Gott.
Alle wissen Bescheid, alle haben Recht, wenn es um die Gottes-Wahrheit geht. Und entsprechend tief scheinen daher die Schatten, die diese felsenfesten Überzeugungen, diese bombensicheren Gerüste der Weltanschauungen werfen. Über diese - täuschenden - Schatten, diese Gräben, die sich um unsere menschlichen Gewissheiten ziehen, ist es schwer zu springen: So fest haben wir uns verschanzt in den Gottesbild-Burgen. —
Das also ist die Landschaft, über die das Licht der Trinität aufstrahlt, das Licht der Offenbarung, wie Gott so anders ist, als man … als Mann und Frau und Kind und Greis und Jude und Heide und alte Griechen und erleuchtete Yogis und grobe Materialisten und digitale Eingeborene, und Nord und Süd und Ost und West, einst, jetzt und künftig sich Ihn vorstellen können.
Wichtig ist dabei aber nun, dass wir ehrlich bleiben: Dass wir nicht behaupten, uns sei dieses Licht längst aufgegangen. Wir hätten Klarheit und sähen hell. …
Der Glanz der Trinitätslehre, das ungeschaute und unerhörte, das unbegreifliche und überirdische Licht der Wirklichkeit Gottes übertrifft den Nebel unserer geerbten und gewohnten christlichen Vorstellungen genauso wie es alle anderen Ideen vom Göttlichen zu Schatten verblassen lässt, indem es sie in völlig neues, nie dagewesenes Licht rückt.
Gehen wir darum geschwisterlich und Hand in Hand mit allen anderen religiösen Suchenden durch dieses wilde Land, wie es in Gerhard Tersteegens berühmtem Pilgerlied heißt (vgl. EG 393,7).
… Sie alle tappen ja wie wir: Erkennen Bruchstücke und Umrisse der Wahrheit und benennen Richtiges im Schwarz-weiß-Modus unseres menschlichen Entweder-Oder-Denkens, das dann doch zu grauen Schemen wird, wenn die ganze Fülle und Herrlichkeit Gottes in Seiner unerklärlich andersartigen Eigenheit, in Seiner unreduzierbaren, unzähmbaren Vollkommenheit sich zeigt.
Gehen wir also mit den Geschwistern ins Licht Gottes hinein, um an ihrer Hand das Staunen und die Sprünge über alle Schatten, alle Grenzen hinweg zu üben. ——
„Das Göttliche, das ist so überreich und bunt: Das Göttliche, das sind die unzählbar Vielen“, sagen unsere hinduistischen Schwestern und Brüder. – „Springt!“, sagt da das Licht, vor dem die Schatten fliehen. —
„Gott, Allāh: Der ist bloß einzig und allein. Der ist nur Einer“, sagen die muslimischen Geschwister, die das bei unsern ersten Brüdern und Schwestern, dem Volk der Verheißung an Abraham gelernt haben. Und auch da: „Springt!“, sagt der Glanz, der mehr ist, als menschliches Wahrnehmen fassen kann. „Springt über die logische und über die biblisch selbst bezeugte Grenze, wenn ihr meint, man müsse Sätze sagen, in denen es heißt, Gott sei »nur« dies oder jenes.“ —
„Göttlich: Das ist das Jenseits aller Dinge, wo nichts mehr ist, wo alles sich von allem löst und endlich das lastenlose, leidenslose, freie Nichts beginnt“, sagen die Jüngerinnen und die Jünger Buddhas. – „Springt!“, lädt das Licht sie ein, und sein Strahlen ist voll. —
„Götter umgeben uns in jedem Lebewesen, jedem Ding“, sagen die Animisten und die Panentheisten. – „Springt!“, lockt das leichte Licht sie. —
„Gott, Der ist rationale Wahrheit und permanente Ewigkeit und universales Gesetz“, sagen die seriösen philosophischen Schulen. – „Springt!“, lacht das liebe Licht sie an.
„Gott: Das ist sie!,“ sagt der Verliebte. „Gott: Das bist Du!“, sagt mein Hund. „Gott: Das bin ich!“, sagt mein Ego. – „Ach, kommt schon! … Springt!“, sagt ihnen das wahre Licht, vor dem wir vergessen können, nicht nur, was dahinten ist und was vor Augen ist, sondern auch, was wir selbst zu sein scheinen. —
Gott ist nicht so, wie ihn die religiösen und intellektuellen und emotionalen Kräfte und Instinkte in uns formen.
Er ist auch nicht jener zur trivialen Floskel verkommene „liebe“ Gott des abgeernteten christlichen Nachsommers, den wir derzeit erleben, in dem alles nur noch wohltun und gut sein und an die noch herrschende Harmlosigkeit angepasst sein muss, die uns zur Zeit vergeht, weil das pseudo-christliche Russland und der jüdische Staat und das ehedem westliche Amerika - um nur unsere Nächsten zu nennen - alle zu unverhohlener Brutalität übergegangen sind, die mit der weichen Kuschel-Welt, aus der wir kommen, in härtestem Kontrast steht.
Und ganz gewiss ist Gott auch nicht der drohende und rächende und strafende Götze der Macht, als den Ihn Abend- und Morgenland so lange zu verehren wünschten, obwohl es Baal war, der da als Fetisch der mordenden Ritterscharen und Sarazenen, der Konquistadoren und Pickelhaubenträger durch Halbmond, Kreuz und Hakenkreuz bezeichnet wurde.
Aus allen diesen Schatten des Nebelweichen und der Donnerwolken, die menschliche Gottesbilder umgeben, müssen wir treten.
Über alle diese Grenzen der Gewohnheit - und des Glaubens! - müssen wir springen, um dem wunderbaren Anderen zu begegnen, Der Sich tatsächlich außerhalb der Ordnungen von Ratio und Religion offenbart.
Er ist nicht Einer nur. Keine Monade. Kein Block. Keine absolut abgeschlossene Einheit. Sondern Sein Sein ist unserem ähnlich … auch wenn wir das vielleicht aus Bescheidenheit, vielleicht auch nur aus Sturheit nicht annehmen wollen. Oder umgekehrt: Unser Sein, das niemals an und für sich existiert, ist dem Sein Gottes nachgeschaffen und nachgebildet. Wir sind Wesen der Vielseitigkeit: Adam ist Evas Grundlage, Eva ist Adams Vollendung. … Als Einer (1) und Eine (2) in dieser Verbindung (3) erst ist der Mensch ganz da. … Als Gott, die Grundlage und der Grundlegende und Der sich dem Grund Verdankende ist Gott erst ganz da: Die Liebe, der Liebende und der Geliebte: Dieses Miteinander ist Seine Einheit, und diese Einheit ist ein Miteinander!
… Bloße Zahlenkategorien – eins oder drei – können diesem Wunder nicht gerecht werden: Wir müssen Abstand von ihnen gewinnen und den Absprung schaffen
… Gott ist nicht einsam und kein Solist und doch in Seiner innersten Gegenseitigkeit nicht dividierbar: Diesem Geheimnis kommen alle näher, die es wagen, mit der alten Kirche und der Kirche heute an diesem Festtag der Freiheit von allen alten Grenzen aus allen Denkrahmen, die uns sonst Struktur verleihen, herauszufallen und die Arme auszubreiten im Segelflug nach oben, hinein in Gottes Vielseitigkeit, die niemals auftrennbar ist. ——
Diese Vielseitigkeit des Einen aber ist noch gewagter und man fällt noch höher und noch tiefer durch Räume und durch Wirklichkeiten, die sonst nicht miteinander kommunizieren, wenn man auf den abenteuerlichen Flügeln der Trinitätslehre schwebt.
… Gott gehört zum Guten. Er ist der Ursprung und der Reim des Guten. Er ist das Wesen und der Weg des Heiles und des Heilens. Er ist dem Himmel und dem Leben vorbehalten: So mag man glauben.
Doch die, die sich Gott anvertrauen so, wie das Evangelium Ihn bezeugt, erleben eine ungeahnte, eine rettende Krise solchen guten Glaubens: … Gott ist dem Schlechten nicht fern, wie sie meinten. Er ist dem Bösen nicht als dessen logisch entgegengesetztes Gegenteil entzogen. Es gibt keinen unüberbrückbaren Abstand zwischen dem Heiligen und der Hölle!
Gott ist nicht das Böse, aber Er erleidet es. Er ist zwar ewig, aber Er lässt sich von der Sterblichkeit nicht trennen. In Ihm ist Vollkommenheit, aber jeden Verlust und jeden Schmerz, jede Verletzung und jede Wunde hat Er auf Sich genommen, in Sich gefasst. …….
Und das … nun, das bedeutet etwas, an dem alle Gottesgedanken und Gottesbilder und Gottesbotschaften und Gottesgesetze sich auflösen. So dass allen, die Gott suchen, nichts anderes bleibt, als Ihn aufzugeben, wenn sie Ihn nicht verlieren wollen.
Gott „an Sich“ muss man aufgeben.
Gott allein, Gott im Jenseits, Gott nach allen Lehrbüchern und Urkunden und Inspirationen muss man aufgeben. Wer Ihn suchen will, wird Ihn nicht finden, … es sei denn, er suchte nicht am Menschen vorbei.
Und das ist der letzte Sprung. … Oder der erste und endgültige Sprung: Sprung in der Schüssel. Sprung übern Schatten. Sprung in die Wirklichkeit, die sich nur trinitarisch erschließt, wenn Gott nicht in Sich abgeschlossen, nicht transzendent und auch nicht mehr nur theologisch zu erfahren ist.
Es ist der Sprung, den ein paar Männer und Frauen aus Israel wagen mussten, nachdem sie mit Jesus gelebt hatten. Nachdem sie mit ihm gewandert waren und geteilt hatten, gegessen und gesungen, gelacht und gelauscht hatten. Nachdem sie ihn kennen- und liebengelernt und verloren hatten. Nachdem sie unvorstellbares Versagen und unvorstellbare Vergebung an sich und ihm erfahren hatten. Nachdem sie die verzweifelten und beschämten, die ungläubigen und verängstigten, die staunenden und erschrockenen und seligen und geisterfüllten und zungenredenden und herzbewegenden Zeugen dessen geworden waren, dass da tatsächlich, unglaublicher- und unerklärlicherweise, irrsinnig und doch eindeutig, Gott war!
Da war Gott, wo sie nie gewagt hätten, Ihn zu vermuten oder zu behaupten. Wo sie Ihn niemals gesucht und geglaubt hätten:
Schlafend im Sturm.
Weinend vor der Stadt.
Blutend zu Tode.
Abgehängt.
Begraben.
Als Mensch aus dem Reich des Todes auferstanden.
Als Mensch aufgenommen in den Himmel vor ihren Augen.
Und dann doch nicht entzogen und vergangen, sondern nach kurzer Unterbrechung nur umso unmissverständlicher als der Heilige Geist wahrhaftig und wahrnehmbar auch in ihnen. Geist, der nun ganz eindeutig zwar in ihren Organen und Regungen und Worten und Taten wirkte, aber doch ebenso unverkennbar lebte, webte, sprach und strahlte, liebte, schenkte, stärkte als die Geistesgegenwart Jesu. Und als der Jesus vergegenwärtigende Geist nun auf einmal die ganze Gottesgegenwart, die in Ihm wahrhaftig war und blieb, auch da in ihnen:
Die Liebe, die liebend und geliebt eine unteilbare Einheit für alle bedeutet: Da! Gott-Jesus-Geist. Da!
Das ist nicht mehr Judentum allein und ist doch auch nicht Heidentum. Das kann kein Rabbi und kein Orakel, keine Torah und keine Philosophie erklären. Man kann es nicht ableiten und nicht beweisen. Kein Hindu, mit dem Gespür für das Gesamte, … kein Buddhist, mit dem Sinn für die letzte Lösung, … kein kinderunschuldiges Weltvertrauen und keine totalsezierende Skepsis kann jemals dorthin vordringen oder sich das träumen lassen.
Es ist der letzte Sprung. Oder eher doch der erste und der endgültige. Weil er uns aus allen unsern Wahrheiten und Gegenwahrheiten in die reine Wahrheit springen, schweben, steigen, fliegen lässt …, in die Wahrheit, die in, über, unter und jenseits aller Wahrheiten ist.
Eine Wahrheit, in der es keine Anti-Wahrheit mehr gibt. Die keinen Ausschluss, kein Rechthaben mehr braucht. Weil niemand von uns alleine je zu dieser Wahrheit käme, und weil, wer sie ahnt, auch niemals alleine dort sein mag, sondern zutiefst erfährt, dass alle dorthin gehören, dass alle dorthin streben und kommen werden.
Weil Jesus der Eine für alle ist.
Er, in dem Gott ist, Den niemand dort gesucht und also auch nicht von sich aus gefunden hätte.
Und weil es eben der Geist Gottes Selber ist, Der dieses Da-Sein, diese Wahrheit auftut, ausströmt, verbreitet, schenkt und überall und tausendfach eröffnet. Auf Weisen und Wegen, die wir nicht einhegen, nicht be-sitzen, nicht behaupten können. Sie sind zu umfassend, zu vielseitig, zu grenzenlos.
Man kann nur ihre Weite und Fülle von fern ermessen … und springen.
Schiller und Beethoven hätten diese Offenbarung dessen, was jedem Menschen gilt und alle verbindet, mit dem berühmten Überschwang ihres „Diesen Kuss der ganzen Welt!“ beantwortet.
Und Paulus hat es nicht anders getan.
Sein großer Sprung ins trinitarische Meer der Versöhnung aller Gegensätze, der Überwindung und Verbindung alles bei uns Einander-Ausschließenden hat uns heute geleitet und möge uns begleiten, bis wir die selige Dreieinigkeit selber schauen:
Zuletzt, Brüder und Schwestern,
freut euch,
lasst euch zurechtbringen,
lasst euch mahnen,
habt einerlei Sinn,
haltet Frieden!
So wird der GOTT DER LIEBE UND DES FRIEDENS mit euch sein.
Grüßt euch untereinander – Muslime und Hindus, Buddhisten und Juden, Christen und Heiden – mit dem heiligen Kuss.
Es grüßen euch ALLE Heiligen.
Die GNADE unseres Herrn Jesus Christus
und die LIEBE Gottes
und die GEMEINSCHAFT des Heiligen Geistes sei mit euch ALLEN!
Amen.
Rogate, 25.05.2025, Joh 16, 23b-33, Mutterhauskirche, Dr. Katrin Stückrath
Rogate! – Bittet, betet! Der Name des heutigen Sonntags enthält eine Aufforderung. Jesus richtet sie an uns: „Bittet, so wird euch gegeben!“ (Lk 11,9 Luther 2017) sagt er. Das ist eine Aufforderung, aber gleichzeitig auch eine Ermutigung.
Eine Ermutigung enthalten auch die Worte, die das Johannesevangelium in einer Abschiedsrede von Jesus an seine Jüngerinnen und Jünger überliefert. Es ist eine Situation kurz vor der Kreuzigung, schon überschattet von den Ereignissen, die kommen werden. Angst und Frust liegen in der Luft. Aber Jesus ermutigt gerade in dieser Situation zum Vertrauen ins Gebet:
„23b Amen, amen, ich sage euch, was ihr Gott in meinem Namen bitten werdet, das wird er euch geben. 24Bis jetzt habt ihr nichts in meinem Namen erbeten. Bittet und ihr werdet empfangen, so dass eure Freude vollkommen wird. 25Dies habe ich verschlüsselt zu euch gesprochen. Es kommt aber die Zeit, dass ich nicht mehr verschlüsselt zu euch sprechen werde, sondern euch offen von Gott, meinem Ursprung, verkünden werde. 26An jenem Tag werdet ihr in meinem Namen bitten. Ich sage euch nicht, dass ich Gott für euch bitten werde. 27Denn Gott liebt euch selbst, weil ihr mich liebt und glaubt, dass ich von Gott ausgegangen bin. 28Ich bin von Gott ausgegangen und in die Welt gekommen. Ich verlasse die Welt wieder und gehe zu Gott, meinem Ursprung. (…)
33 Dies habe ich euch gesagt, damit ihr in mir Frieden findet. In der Welt leidet ihr Qualen, aber seid zuversichtlich, ich habe die Welt besiegt.“ (Joh 16, 23b-33 BigS 2011)
Wenn wir Jesus Glauben schenken, scheint das mit dem Gebet eine ganz einfache und klare Sache zu sein: „Bittet und ihr werdet empfangen, so dass eure Freude vollkommen wird.“ (Joh 16,24b BigS 2011) Auf das Gebet folgt die Erfüllung und daraus folgt Freude. Ich wünsche mir, dass es so einfach wäre. Dann gäbe es nie die Frage: Nützt Beten überhaupt? Diese Frage habe ich mir schon oft gestellt. Auch andere haben mir diese Frage gestellt: Verändert Beten wirklich etwas?
Eine klare Sache ist es, zu sagen, Beten verändert natürlich zuerst die Beterin. Beim Beten werde ich mir klar über meine Hoffnungen und Wünsche, meine Prioritäten und Ziele. Das kann mich in meinem Handeln stärken. Beten verändert dann nicht die Welt, aber zumindest mich. Das ist schon ein guter Grund zum regelmäßigen Beten, besonders für Frauen, an die oft vielfältige Ansprüche herangetragen werden. Manchmal verlieren sie über den Erwartungen, was frau zu leisten hat, sich selber aus den Augen. Beten kann helfen, sich treu zu bleiben.
Wenn ich Jesus reden höre, habe ich aber den Eindruck, es geht um noch mehr. Es geht um einen Sieg über die Welt, darum, am Ende Frieden für alle zu erhalten. Oder ist das alles zu verschlüsselt, um es wirklich zu verstehen? Es gibt tatsächlich einen Schlüssel in dem Text, den die Jüngerinnen und Jünger in der geschilderten Situation noch nicht haben. Jesus verheißt ihnen den Schlüssel für einen bestimmten Zeitpunkt, nämlich: „an jenem Tag“. „An jenem Tag werdet ihr in meinem Namen bitten.“ (Joh 16,26a BigS 2011) Mit diesem Tag ist Ostern gemeint, der dritte Tag, der Tag der Auferstehung Jesu. Ab diesem Tag können wir in Jesu Namen bitten.
Ich frage mich: Wie verändert die Auferstehung unser Gebet? Nun, sie hat ja etwas Neues in die Welt gebracht. Der Tod bleibt nicht mehr der Tod, Gewalt hat nicht gesiegt. Gott hat sich an seinem Gesandten als treu erwiesen. Er lebt und mit ihm alles, was er gesagt und geliebt hat. Jesus wird nicht vergessen, sondern bleibt. Sein Name bekommt eine neue Qualität. So wie Gott, der „Ich bin für euch da“ ist, weil er Israel aus Ägypten geführt hat, so ist Jesus der „Ich bin für euch da“ durch die Auferstehung.
Ich überlege: Wenn Auferstehung möglich war, dann kann noch viel mehr möglich sein! Menschlichkeit kann siegen, Leben gefördert und bewahrt werden. Beten kann der Ort sein, sich das vorzustellen. Mit der Auferstehung in Kopf und Herz zu beten, ist eine Ermutigung, das Neue, scheinbar Unmögliche zu erbitten. Dann öffnet sich der Horizont und es kann viel geschehen.
Jesus will vermitteln, dass die Auferstehung unserem Gebet radikal Kraft, ja Vollmacht verleiht. Trotzdem fällt es mir oft so schwer, voller Hoffnung zu beten. Der nordamerikanische Befreiungstheologe Walter Wink meint, das liegt am vorherrschenden Weltbild. Es ist materialistisch, das heißt, es zählt nur, was wir sehen und messen können. Dieses Weltbild beherrscht die westliche Welt und lässt keinen Platz für das Gebet oder gesteht ihm nur einen kleinen Platz in der menschlichen Psyche zu. Auch gläubige Menschen haben dieses Weltbild verinnerlicht und zu ihrem eigenen gemacht. Sie glauben noch an Gott und eine spirituelle Welt, aber diese ist von der materiellen Welt abgetrennt. Sie finden keine Verbindung zwischen beiden. Hingegen durchdringen sich im sogenannten integrierten Weltbild Spirituelles und Materie in unserem Universum fortwährend. Walter Wink beschreibt es so: „… wir sind von Anfang an mit allem verbunden. Jeder Tropfen Wasser in mir ist während der Milliarden Jahre, in denen die Erde existiert, bereits Teil jeder Quelle, jeden Baches, jeden Flusses, jedes Sees oder Meeres der Welt gewesen. Wir sind mit allen anderen Wesen des Universums verbunden. In einer solchen Welt kennen wir die Grenzen des Möglichen nicht. Deswegen beten wir um das, was wir für richtig halten, und überlassen Gott das Ergebnis. Wir leben in der Erwartung von Wundern, in einer durch das Staunen neu verzauberten Welt. Die Fürbitte ist eine völlig rationale Antwort auf eine solche Welt.“ (Walter Wink, Verwandlung der Mächte. Eine Theologie der Gewaltfreiheit, Regensburg 2014, 3. Aufl. 2023, 156.)
Für oder um etwas zu bitten, verändert also nicht nur das Denken, sondern auch die Wirklichkeit. Wenn Beten Raum für Gottes Wirken schafft, hat Gott mehr Möglichkeiten zu handeln. Wenn wir uns mit der Auferstehung in Kopf und Herz an Unmöglichem festhalten, gibt das Gott Möglichkeiten für Wunder. Mir leuchtet ein, dass Gott für Wunder Leute braucht, die für die Hoffnung offen sind. Ohne das Spirituelle wird sich auch das Materielle nicht verändern.
Jesus hatte auch ein solches integriertes Weltbild, indem Spirituelles und Materie sich durchdringen. Auf dieser Grundlage kann Jesus davon wie in unserem Predigttext sprechen, dass Gott ihn liebt und alle seine Freundinnen und Freunde liebt. Gott ist der Ursprung von allem, davon ist Jesus überzeugt. Gott ist auch sein Ursprung und Jesus kann wieder dorthin zurückgehen. Spirituelles und Materie sind nicht getrennt, denn sie haben den gleichen Ursprung. Mit diesem Weltbild und dem Glauben an eine Gottheit, die sich als „Ich bin für euch da“ erwiesen hat, konnte Jesus schon vor der Auferstehung an die Auferstehung glauben. Das bringt ihn dazu, auch uns Frieden zu verheißen. „Dies habe ich euch gesagt, damit ihr in mir Frieden findet. In der Welt leidet ihr Qualen, aber seid zuversichtlich, ich habe die Welt besiegt.“ (Joh 16,33 BigS 2011)
„In der Welt leidet ihr Qualen“ (Joh 16,33 BigS 2011) wird in der Lutherbibel übersetzt mit „In der Welt habt ihr Angst“ (Joh 16,33 Luther 2017). Das Wort für „Angst“ verweist auf eine Situation des Eingeschnürt-seins oder dass man keinen Ausweg sieht (vgl. Ton Veerkamp, Das Evangelium nach Johannes in kolometrischer Übersetzung, Texte & Kontexte Nr. 106-107, 2005, S. 88, Fußnote 71). Es ist eine Situation der realen Bedrohung, die Qualen bereitet. Menschen in Verfolgung leiden auf diese Weise, auch Menschen, die sich einer schweren Krankheit ausgesetzt sehen. Sie fühlen sich eingeschnürt in die Umstände, sehen keinen Ausweg.
Das Gebet kann aber einen Ausweg weisen. Nicht zufällig spricht Jesus hier im Zusammenhang mit dem Gebet davon, dass er die Welt besiegt habe. Wenn das Gebet das Unmögliche für möglich hält und Gott Raum zum Handeln eröffnet, dann kann es viel verändern. Eine Frau aus meinem Bekanntenkreis erzählte: „Als ich die Krebserkrankung bekam, haben viele für mich gebetet, ja - auf der ganzen Welt haben Menschen für mich gebetet. Das hat mir ungeheuer viel Kraft gegeben. Ich fühle mich davon getragen und habe viel Mut bekommen, mich mit der Krankheit auseinander zu setzen.“ Diese Frau fühlt sich nicht mehr vereinzelt. Sie hat durch die Gebete von Menschen auf der ganzen Welt eine Ahnung davon bekommen, dass es Gemeinschaft gibt, dass alles mit allem zusammenhängt. Das integrierte Weltbild hat sich hier manifestiert. Wir haben alle einen Ursprung, Gott, die Quelle der Liebe. Deshalb hängen wir alle zusammen und wenn ein Teil Qualen leidet, fühlen die anderen mit. Dieses Beispiel zeigt aber noch mehr: Die anderen halten für diese Frau an der Hoffnung fest. Heilung ist möglich, sagen sie mit ihren Gebeten. Sie schaffen den Heilungskräften einen Raum, in dem die Frau und Gott handeln können.
Wenn das Gebet dies bewirken kann, sollten wir der Aufforderung „Rogate! – Bittet, betet!“ viel mehr Gewicht schenken. Mit der Auferstehung in Kopf und Herzen kann unser Beten spiritueller Widerstand gegen Unfrieden und Qualen aller Art sein. Es setzt die Kräfte der Hoffnung frei und schafft Räume für Wunder. Hier kann die Frage auftauchen: Braucht Gott unser Gebet? Ich würde nicht sagen, Gott ist darauf angewiesen. Aber ich denke, Gott wartet auf unsere Gebete, weil sie mithelfen. Ich bin nur ein ganz kleiner Teil des Universums, aber im Beten kann ich zu einem spirituellen Kraftzentrum werden. Daraus kann dann etwas völlig Neues entstehen. Beten ist so etwas wie ein gemeinsamer Schöpfungsakt mit Gott.
Bleibt am Ende noch die Frage: Welche Form ist eines solchen Gebetes angemessen? Walter Wink meint, es sollte ruhig energisch, ja sogar aggressiv sein. „Wir werden Gott ehren, indem wir die volle Bandbreite unserer Gefühle zulassen, von Frustration über Empörung bis zur Freude und alles, was dazwischen liegt.“ (Walter Wink, Verwandlung der Mächte. Eine Theologie der Gewaltfreiheit, Regensburg 2014, 3. Aufl. 2023. S.165).
Ich denke, das Beten muss auf jeden Fall beharrlich sein, weil es viele inhumane und zerstörerische Kräfte auf der Welt gibt, denen unsere Gebete etwas entgegensetzen müssen. Ich nehme mir immer wieder vor, täglich zu beten. Ich möchte das Gebet wie eine spirituelle Nahrung, wie Essen und Trinken, betrachten, die ich zum Leben brauche. Ich kann mir die Sprache von den Psalmen leihen, weil dort die ganze Bandbreite der Gefühle zu Wort kommt. Ich kann auch manchmal eine Zeit lang schweigen, damit auf dem Grund des Schweigens Raum für ein Wort Gottes ist, das Gott dort entstehen lassen will. Ich kann aber auch auf die Straße gehen und mit anderen zusammen ein Statement setzen für die Hoffnung auf Veränderung der Welt. In privaten Situationen kann ich üben, Konflikte nicht in Gewalt ausarten zu lassen, sondern sie zu nutzen, um mich und andere besser zu verstehen. Und es gibt wohl noch viele Arten des Betens, die Menschen praktizieren können.
Zu beten heißt nicht, die Augen zu verschließen, sondern die Welt so wahrzunehmen, wie sie ist, voller Unfrieden und Qualen. Aber mit der Auferstehung in Kopf und Herz müssen wir uns davon nicht mehr einschnüren lassen. Wir finden Auswege in der Hoffnung. Wir dürfen nicht nur, nein, wir sollen um Wunder bitten. Wir beten zu Gott, nicht, weil wir alles verstehen oder erklären können, sondern weil wir von Jesus lernen können, dass Gott mit uns zusammen Wunder tun kann.
Amen.
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