3.Advent, 15.12.2024, Stadtkirche, Römer 15, 4 - 13, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.Advent - 15.XII.2024
Römer 15, 4 - 13
Liebe Gemeinde!
Wenn ich „Qumran“ sage oder „Masada“, dann steht einigen die gleißende Landschaft im Südosten Israels vor Augen, wo am Rand der Wüste Juda, in den Felsen überm Toten Meer die Reinigungs- und Erneuerungsbewegung, die das Volk Gottes in römischer Zeit ergriffen hatte, ihre buchstäblichen Hochburgen besaß:
In der asketischen Gemeinschaft des endzeitlich-gläubigen Judentums von Qumran bereitete man sich rigoros geheiligt auf das nahe herbeigekommene Reich Gottes vor. Und in der thronenden Festung, in der einst Herodes sich luxuriös abgeschirmt hatte, behaupteten sich die letzten stolzen, freien Kämpfer des alten Israel mit Kind und Kegel gegen die Armee Roms, bis sie schließlich frei nur noch in ihrem gemeinschaftlichen Tod sein konnten.
Östlich unterhalb von beiden aber - von Qumran und Masada - floß in die salzige Lake des Toten Meeres das Wasser des Jordan, in dem Johannes einst gestanden und wiedergeborene Menschen, die sich durch Umkehr dem Untergang hatten entgegenstemmen wollen, in die Flut getaucht und aus ihr herausgerissen hatte. Das Kind, vom dem wir eben im „Benedictus“ gebetet haben, dass es die Füße der Leute auf den Weg des Friedens richten sollte (vgl. Lk.1,79), hatte als wilder Mann die Bußbewegung ausgerufen, die im Judentum der Zeitenwende eben in der Luft lag. Der Zorn, den Johannes predigte, hatte in vielen berührbaren, pharisäischen Herzen Staub aufgewirbelt, … den Staub der Gewohnheit und der Sünde, der im Jordan abgewaschen wurde. Die Herzen der romhörigen Herodianer und Sadduzäer dagegen waren noch härter gebrannt worden in der Glut der täuferischen Erregung.
Und dann kam Gottes Lamm selber, das die Sünde der Welt trägt (vgl. Joh.1,29) hinab an den Strom, an dem sich die Geister scheiden sollten, und die Stimme vom Himmel (vgl. Mk.1,11) und der Geist aus der Höhe (vgl. Lk.3,22) troffen in den Jordan und seine geheiligten, seine messianisch angereicherten Wasser strömten weiter nach Süden, …. vorbei an den stillen Höhlenklöstern der Heiligen von Qumran, vorbei an der späteren Bastion des jüdischen Kampfgeistes, an Masada, wo Märtyrerblut floss, ohne dass jemand in Feindeshand fiel.
Es ist also trotz der hellen Wüstensonne ein finsterer Verlauf, den der Jordan nimmt: Das selbe Wasser, in das Jesus eintauchte, um sein Sterben und Auferstehen vorwegzunehmen, … das H2O, in dem die Offenbarung des fleischgewordenen Sohnes Gottes vor der Welt sich vollzog, strömte an Stätten vorbei, die erlöschender Erwartung und vergeblicher, furchtbar fehlgeleiteter Gewalt den Rahmen bieten würden. ——
Paulus wird das bedacht haben auf seiner einsamen, rätselhaften Reise in die Wüste, nachdem er in Damaskus vom Lichtglanz und von der überwältigenden Liebe des selben Jesus umflossen worden war, der im Jordan wie alle anderen Menschen unterging, um den ewigen Untergang aller Menschen aufzuhalten (vgl. Gal.1,17)[i].
Als er nach seiner Bekehrung, Taufe und Berufung auf die arabische Halbinsel zog, wo er - für uns in tiefstes Geheimnis gehüllt - Dinge erlebte und Wahrheiten erfuhr, die ihn zum Apostel aller Völker machten, … damals ist auch Paulus in größerer Nähe oder Entfernung zu den Fluren des Jordanlandes ins Schweigen der menschenleeren Gefilde gewandert. Und je tiefer er in die den Einsiedlern und Mystikern, den Visionären und den Asketen vorbehaltene Endlosigkeit des arabischen Sandes zog, desto stärker muss der Jordan, den er im Rücken hatte, ihm in den Ohren geklungen haben.
Vielleicht wanderte der Schriftgelehrte Saulus, der als Hassender plötzlich ganz unverdient die Liebe des gekreuzigten Messias hatte erblicken dürfen, durch Transjordanien ja mit den ihm wohl vertrauten Worten des 42. Psalms:
„Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, /
so schreit meine Seele, Gott zu dir. /
Meine Seele dürstet nach Gott, / nach dem lebendigen Gott. /
Wann werde ich dahin kommen, / dass ich Gottes Angesicht schaue? /
…
Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir, /
darum gedenke ich an dich /
aus dem Land am Jordan und Hermon, /
vom Berge Misar. /
Deine Fluten rauschen daher /
und eine Tiefe ruft die andere /
alle deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich …….“
… Natürlich sind wir hier im Reich von Spekulation und Phantasie, weil niemand je erfahren hat, was dem neu getauften, eben noch geblendeten Saulus in der Arabia widerfuhr, wo er zum Missionar der Heiden, zum mutigen Erstlingsverkünder weltweiter Erlösung und Versöhnung durch den Messias heranreifte.
… Natürlich ist alles, was wir über seine Inkubation und seine Exerzitien mutmaßen können, legendenhaft: Doch wann wäre das angemessener als jetzt im Advent, der Zeit des erwartungsvollen, herzklopfenden Grübelns und Wünschens und des hellhörigen Wachens durch die Nacht hindurch dem Licht entgegen?!
… Natürlich hören wir jetzt, im Advent also die Flöhe husten, die Engel singen und das Menschenherz seine Geschichten erzählen; und in der totalen Verschwiegenheit, die Paulus über seine ersten Lehr- und Wanderjahre in abgeschiedenster Gottesnähe wahrte, flüstert sich mir wie von selbst die Legende ein, dass er im grandiosen Verstummen der Wüste das Rauschen des Jordan im Ohr behielt, wo Jesus den Dienst der Erlösung durch die buchstäbliche Erniedrigung in den Graben antrat, der zum tiefsten Punkt der Erdoberfläche führt. … Und ich kann mir nicht helfen, sondern muss mir vorstellen, dass er dabei auch dieses bei den Mystikern seit jeher beliebteste Wort des Psalms mitschwingen hörte: „Eine Tiefe ruft die andere“ …. „abyssus abyssum vocat“, wie Hieronymus übersetzt.
Paulus in Arabien, in der Phase seiner intensiven Meditation nach der Berufung durch Jesus hat also erlebt, was er am Ende des Römerbriefes festhält: „Was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben.“
Was aber ist denn der Trost der Bibel des Paulus, … der Trost des fälschlich sog. „Alten“ Testaments? Was ist der Trost, den Paulus die Schrift durchgrübelnd und durchforschend in der menschenleeren Einöde fand, wenn er auf den weit entfernten und tiefen Jordan lauschte, in dem das Taufwasser des Erlösers durch die ganz unerlöste Welt floss, in der damals wie heute sonderbare Heilige und brutale Unheilige alle Ufer besetzen? …
Was hat Paulus bewegt, der gewusst haben wird von den zahlreichen Spannungen zwischen den zurückgezogenen Qumran-Frommen am Toten Meer und seinen schriftgelehrten pharisäischen Mitbrüdern, die in Jerusalem den Messias erwarteten, und den rebellionsschmiedenden Zeloten in Galiläa und den Aposteln Jesu in der Heiligen Stadt, am See Genezareth und sogar in Damaskus, die den gekommenen, in den Himmel erhöhten Messias liebten und ehrten und inbrünstig schnellstens zurückwünschten und dann den überall misstrauischen, Weltfrieden-herbeifolternden Römern? …
Und was bewegt nun uns, wenn wir uns nur den Verlauf jenes Jordan vergegenwärtigen, dessen drei Quellen im erschütterten, vielleicht verheißungs-, vielleicht verhängnisvollen Raum des syrisch-libanesischen Hermongebirges - der Golanhöhen - entspringen und dessen kostbares Wasser die Siedler im Westjordanland den palästinensischen Landwirten und Olivenbauern so zynisch vorenthalten, und dessen Fließrichtung zur Mündung im Toten Meer die Blicke über den Trug unserer Urlaubserinnerungen an Eilat hinweg noch weiter südlich unerbittlich in Richtung des Grauens im Sudan, des Horrors im Jemen, des Unheils im Iran lenkt? …
Was bewegt uns, wenn wir in diese Welt blicken, in der ein Abgrund dem anderen zuruft?
Rufen die Abgründe der Welt, die Abgründe der gegenwärtigen Zeitgeschichte einander nicht permanent „Wehe! Wehe!“ zu?
Rufen nicht alle Ströme der Erde: „Wir vertrocknen und mit uns die Wälder und mit ihnen die Menschheit?“
Rufen nicht alle Ufer und alle Gräben und alle Meere: „Nichts fließt so viel wie Blut? Nichts bedeckt uns bald so wie die Flüchtlingsströme? Nichts tragen wir so in alle vier Winde wie Gewalt und Zerstörungswut?“
Rufen die Abgründe nicht schier Abgründiges in den Weltraum hinaus, obwohl unten im Jordangraben einst der Christus seinen lebensrettenden Dienst für alle Kreatur antrat, indem er sich beugte unter die Wasserwogen und Wellen, die über das Leben gehen? ……. ——
Doch dem Paulus ist ein anderer, noch tieferer Ton als das Brausen der Sintflut in der Schrift begegnet: Die Tiefe aller Tiefen, der Abgrund aller Abgründe ist das, den Paulus im Römerbrief schon einmal wortwörtlich hat hören lassen, als er das Rätsel der Spannung zwischen Juden und Christen und der Auflösung dieser Spannung durch die gemeinsame Erlösung meditiert hat. … Da singt er (Rö.11,33):
„O welch eine Tiefe des Reichtums, /
beides der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! /
Wie unbegreiflich sind seine Gerichte /
und unerforschlich seine Wege!“
Und das ist nun tatsächlich der Ur- und Grundton des Weltalls. Es ist der grundlose Ursprung, der im Wasser des Jordan fließt, wo Christus sein Erlösungswerk begann, und der in jedem einzigen von uns weiterfließt bis ins ewige Leben (vgl. Joh.4,14 + 7,38).
Dieser Urgrund, dieser Abgrund ist erfüllt von der Wahrhaftigkeit Gottes in Seinen Verheißungen für Israel; dieser Abgrund, dieser Urgrund ist erfüllt von der Barmherzigkeit Gottes gegenüber allen Völkern.
Tiefer als alle Not, tiefer als alles Leid, tiefer als alle Angst, tiefer als aller Schmerz, tiefer als aller Hass, tiefer als alle Zerstörung, tiefer als der Tod, tiefer als die Hölle, tiefer als das Ende, tiefer als das Nichts, tiefer als Alles ist dieses unauslotbare, unbegrenzte, anfangs- und endlose Mysterium der tiefen, tiefen, übertiefen Liebe Gottes.
Das ruft der Abgrund den Abgründen zu. ——
Es gibt dazu eine Melodie, die wir jetzt nicht singen werden, weil ich dann heulen müsste: Von ihr erzählt man sich - in noch einer Legende -, sie sei am rauen Strand von Wales nach einem Sturm in einer schmutzigen Flasche an Land gespült worden. Zu dieser Melodie aus der Tiefe gehören in England Worte, die einem depressiven jungen Mann eingegeben wurden, als er sich in einer winterlichen Nacht auf der verlassenen Hungerford Bridge verzweifelt in die dunkle Thames stürzen wollte[ii].
Sein Rettungslied geht so:
O the deep, deep love of Jesus, vast, unmeasured, boundless, free!
Rolling as a mighty ocean in its fullness over me!
Underneath me, all around me, is the current of Thy love
Leading onward, leading homeward to Thy glorious rest above!
O the deep, deep love of Jesus, spread His praise from shore to shore!
How He loveth, ever loveth, changeth never, nevermore!
How He watches o'er His loved ones, died to call them all His own;
How for them He intercedeth, watcheth o'er them from the throne!
O the deep, deep love of Jesus, love of every love the best!
'Tis an ocean vast of blessing, 'tis a haven sweet of rest!
O the deep, deep love of Jesus, 'tis a heaven of heavens to me;
And it lifts me up to glory, for it lifts me up to Thee!
(Samuel Trevor Francis, 1834 – 1925)
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O, die tiefe Liebe Jesu, / riesig, maßlos, endlos, frei,
wie ein Ozean so strömt sie / völlig über mich herbei.
Unter mir und um mich strömt die / Liebe mächtig wie die See
und sie führt mich vorwärts, / heimwärts zu der Ruhe in der Höh.
Preiset Jesu tiefe Liebe / alle Ufer, hin und her,
weil er liebt, nur liebt - und niemals / wandelt sich die Liebe mehr.
Er bewahrt die Seinen, die Er / durch den Tod fest an sich band;
Er vertritt sie und Er birgt sie / treu in der erhöhten Hand.
O die tiefe Liebe Jesu! Keine Liebe ist wie Du:
Wie ein Meer aus reinem Segen, / wie der Hafen reiner Ruh!
Jesu tiefe, tiefe Liebe! / Himmelreich: Das bist Du mir!
Denn Du trägst mich zur Vollendung. / Ja, Du trägst mich heim zu Dir!
(Übersetzung: J.M.)
Und dieses Lied aus der Tiefe von der schier abgrundtiefen Liebe zu allen, allen, allen – zu Juden und Heiden, zu Freunden und Feinden, zu Fernen und Nahen – … das ist es, was dem Paulus in der Einsamkeit, fern aller Zivilisation und also aller Schrecken aufging.
Diese abgrundtiefe Liebe ist es, zu der er alle rufen wird, nachdem er an Masada und Qumran vorbei erst nach Jerusalem zurückkehrte und dann von dort zu allen Menschen - auch zu uns! - aufbrach.
In der Schrift - in der Torah und den Psalmen und Propheten[iii] - , die er in der ohrenbetäubenden Stille studierte, in der Schrift, von der die tiefsten Geheimnisse der Schöpfung und der Offenbarung überfließen, fand er, dass alle einträchtig und einmütig und in einem gegenseitigen Einvernehmen, das einzigartig ist, zu Lob und Freude und Hoffnung zusammengerufen werden, weil es diese Harmonie ist, die Jesus Christus entspricht.
Und so ist das eine Wort, das aus dem Abgrund steigt und überm Abgrund steht und in die Unergründlichkeit der Ewigkeit weist, das Wort HOFFNUNG, das Paulus aus seiner Entfernung von allem hinein in die ganze Welt trug.
Wir haben einen gemeinsamen Gott – wir zersplitterten und zerstrittenen, wir zerstreuten und zerfallenden Menschen und Völker und Glaubensweisen – … wir haben einen gemeinsamen Gott, Der über alles Trennende und Unversöhnliche und Unerlöste hi-weg mit Seiner Liebe das Volk Israel und alle anderen Völker – Palästinenser und Syrer, Ukrainer und Russen, Uiguren und Chinesen – zum Frieden führt!
Das ist das die Untiefen erfüllende, die Geschichte vollendende, die Ewigkeit aus- und ausdehnende Geschenk, das wir im Advent erfahren und feiern: Dass über allem die Hoffnung herrscht!
Denn so ruft’s ein Abgrund dem andern zu und so dürfen auch wir weiter und weiter bitten, dass der Gott der Hoffnung uns erfülle mit aller Freude und allem Frieden im Glauben und wir immer reicher werden an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes!
Amen.
[i] Die kryptische Notiz über seinen Aufenthalt in Arabien lässt wenig über die innere Entwicklung, bzw. Prüfung und Vergewisserung ahnen, die sich dort vollzogen haben müssen. Deutlich ist aber, dass der Apostel diese Zeit des vollkommenen Rückzugs als die Grundlage der Freiheit seiner Heidenmission empfand. Er muss also zu einer Klärung und Klarheit gekommen sein, die den Weg des Evangeliums zu allen nicht-jüdischen Menschen fundamental geprägt haben. Dass die Predigt das geographisch-spekulativ mit dem transjordanischen Terrain, durch das er reiste, verknüpft, verdankt sich dem Proprium des 3.Adventssonntags, an dem der Täufer und dessen Vorboten-Mission in beinah allen Schriftlesungen mittelbar im Zentrum steht.
[ii] Vgl. dazu https://gospelreformation.net/o-the-deep-deep-love-of-jesus/.
[iii] Der Predigttext ist ein besonders vollendetes Beispiel für die (rabbinische) Hermeneutik des schriftgelehrten Paulus, der durch Sammlung und Verknüpfung von Belegstellen aus dem gesamten Tenach (hebräische Bezeichnung für das Corpus aus Torah, Propheten und Psalmen) die Verkündigung des Evangeliums als „gemäß der Schrift“ begründete. In der Perikope aus Römer 15 sind deshalb bewusst Zitate aus dem 5.Buch Mose, den Psalmen und dem Propheten Jesaja verbunden, um zu zeigen, dass alle 3 Teile des alttestamentlichen Kanon dem Ziel der paulinischen Heidenmission – die Akzeptanz einer Juden und Nicht-Juden verbindenden Christus-Gemeinschaft zu schaffen – eine unumstößlich Basis bieten.
2.Advent, 08.12.2024, Stadtkirche, Jesaja 35, 3 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Advent - 8.XII.2024
Jesaja 35, 3 - 10
Liebe Gemeinde!
Der berühmte rheinische Katholik Joseph Beuys hat den Satz geprägt: „Ich denke sowieso mit dem Knie“.
Vielleicht meinte er damit die rheinische Wendigkeit, die ein solches Gelenk ermöglicht, weil die Steifbeinerten nur geradeaus zu marschieren vermögen und Spurwechsel, Um-die-Ecke-Biegen oder Umkehren lächerlich wirken, wenn man nicht federn, schwingen und seitwärts ausweichen kann. Vielleicht meinte er aber auch gut katholisch, dass man sich nur durch das Knien in seiner Demut, in seiner Bedürftigkeit nach Gnade, in seiner Selbstrelativierung vor Wichtigerem ausdrücken kann.
Auf alle Fälle ist ein Leben ohne Lockerheit und ohne Kniebeugen menschlich und geistlich arm: So scheint es mir jedenfalls, der ich derzeit auch mit dem Knie denke. Weil es mich da zwickt, spiele ich das alte Gesellschaftsspiel der Frommen, die in der Vergangenheit immer schon ihre eigenen körperlichen Schmerzen als Verbindung mit andern, wichtigeren Schmerzerfahrungen betrachteten. Sie haben ihren Hunger und Durst, ihr Fiebern oder Frieren, ihre Krankheiten und Gebrechen immer als ein Stück Gemeinsamkeit mit dem großen Schmerzensmann der Bibel oder seinen Vorgängern und Nachfolgern im Leid empfunden.
Es gibt schließlich auch im Weh genau wie im Wohlergehen ein Miteinander, das sich vertieft, wenn man spürt, was andere spürten oder was sie erwartet.
Wenn also mein Knie mich derzeit ärgert, zuckt mir die bis auf die Knochen gehende Erniedrigung und Ermattung der Versklavten in Ägypten, der Verschleppten in Babylon durch Mark und Bein. Und wenn es richtig arg ist, wird eine noch andere Passion lebendig, die Einen traf, der im Garten Gethsemane auf seine Knie fiel und auf der Straße nach Golgatha unter meinem Kreuz, das Er zu tragen hatte und an dem sie Ihm die Beine brachen, in die Knie ging. …….
Mit dem Körper zu denken, kann also den Geist durchaus verständiger und empfänglicher machen.
Und wenn wir in der Solidarität des gemeinsamen Glaubens, in der Mystik des einen Leibes Christi mit dem Körper Anderer zu denken übten, dann würde unser Hoffen und Lieben zweifellos um entscheidende Dimensionen echter, menschlicher und drängender!
Doch wer von uns, den nicht gerade irgendeine eigene Irritation piesackt, denkt sich in die praktische Erfahrung der Angeschlagenen und Gemütskranken, der Blinden und Tauben und Lahmen und Stummen hinein, die der Prophet heute als die tatsächlichen Adressaten und Empfänger des Evangeliums vom kommenden Erlöser anspricht?!
Gewiss: Wir reden von Inklusion und haben ein entferntes Bewusstsein von den Einschränkungen und Kränkungen, die leidet, wer vor seelischer Ausgebranntheit nicht aus dem Bett oder wegen seiner Armut nicht aus der Wohnung kommt oder mit seinem Rollstuhl nicht die Treppe runter oder mit seinen Panikattacken nicht unter die Leute kann; wir ahnen etwas von der Einsamkeit derer, die nicht kommunizieren oder mühelos auffassen können, was geschrieben oder gesagt wird; wir können ein wenig vielleicht nachfühlen, wie rücksichtslos das wirkt, was uns an Fähigkeiten oder Berechtigungen selbstverständlich ist, und wie zermürbt die sind, denen man ansieht, was wir verstecken oder anhört, was wir verschweigen können: Unsicherheit, Mängel, Selbstzweifel, organische Hindernisse und unbewusste Hemmungen.
Aber in der Haut der wirklich Ausgegrenzten, der wirklich tief Beeinträchtigten, der wirklich Anders-Geschaffenen, -Begabten und -Gewordenen stecken die meisten von uns nicht.
Doch diese Haut – mit allen offenen Wunden, Verletzungen und Narben, mit allen Nadelstichen und selbst zugefügten Ritzungen – … diese Haut ist es, in die Der kommt, Den Jesaja den Kaputtgemachten und Verlorengegangenen als ihren Gott ankündigt!
Das weiß Jesaja damals natürlich noch nicht so klar, und auch wir nach zweitausend Jahren Weihnachten haben es bis heute noch nicht klar und nüchtern begreifen und bekennen wollen!
Jesaja – wenn er die große, endgültige Heilsbotschaft ankündigt: „Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott!“ – … Jesaja kann bei diesen überwältigend trostreichen Worten nicht an ein verdrecktes Kind in löcherigen Windeln in einem Trog denken und noch weniger an einen Gefolterten, den sie nackt durch die Straßen von Jerusalem treiben, um ihn auf der Müllkippe abzumurksen. … Aber wir stehen ihm in unserer hartnäckigen Begriffsstutzigkeit unter Garantie in Nichts nach: Oder erwarten wir tatsächlich einen Streetworker des Himmels, einen göttlichen Rettungssanitäter, einen messianischen Blauhelm-Friedenseinsatz, einen Menschenrechtsheiland, einen Christus der Suppenküche und einen stellvertretenden Bringer von Gerechtigkeit und Freiheit auf dem Straßenstrich und bei den Drogendealern?
Warum erwecken wir denn mit unserer Art, die Erwartung - den Advent - zu begehen, eigentlich doch eher den Eindruck, Er komme, um Gemütlichkeitsnoten und Preise fürs Plätzchenbacken zu verteilen? Warum wirkt es bei mir und bei vielen anderen eher so, als erwarteten wir den Erlöser zum Kaffeekränzchen bei Kerzenschein und Hausmusik und müssten unsre Privaträume deshalb trendfarbig oder traditionell herausputzen?
Warum ist der Advent – biblisch recht eigentlich die Zeit der himmelschreienden Erlösungssehnsucht! – die Hochkonjunktur der Idylle unter uns?
… Nichts gegen den Duft von Bienenwachs und den Geschmack von Christstollen! Nichts gegen strahlende Schwibbögen und andere geschmackvolle Illumination in Tannengrün und Kunstschneeglitzern.
… Aber die sind ja nun allenfalls für uns und unseresgleichen eine indirekte Erinnerung an das wohlig rieselnde Leben und das gefahrlose Dasein, das der Prophet der Erlösung für die in der Wüste und der Wüstenei einer allseits lebensfeindlichen, lebensbedrohlichen Wirklichkeit ankündigt!
Wenn wir ein wenig verstehen und begreifen wollen, was die Botschaft dieser Tage – der Tage der realen irdischen Not und der ebenso realen Hoffnung für die Notleidenden – ist, … wenn wir ein wenig spüren und in uns aufnehmen wollen, was die Botschaft dieses zukünftigen Heiles ist – eines Heiles, das den wirklich Gezeichneten, den physisch und psychisch wirklich Gequälten wirkliche Linderung und Lösung bringt –, … wenn wir einen Hauch, einen Herzschlag, eine Handvoll dessen erfahren wollen, was der weltweite Horizont ist, vor dem wir in den Adventswochen stehen, weil alles auf den Umschwung, auf die Befreiung, auf den Durchbruch der totalen Verwandlung von Horror zu Heilung wartet, ……. wenn, wenn, wenn es uns - wie Gott! - um mehr als Trallala geht, dann müssen wir die Zone des Sentimentalen und des Gemütes verlassen und müssen völlig körperlich wahrnehmen!
… Mit fremden Körpern denken …
Gott und das Trauma der Folter in Russland, das im kaltem Schweiß und in Hypertonie und Herzrasen ihrer Opfer weiterlebt: In diese Spannung und was der Eine für das andere bedeuten könnte, müssen wir uns einzufühlen versuchen.
Die beinah betäubungslos Amputierten von Gaza – ihre dauerhafte Schädigung, ihre brutal abgerissenen Lebenschancen – und Gott: Das ist der Widerspruch und Zusammenhang, den wir ahnungs-, aber darum auch gänzlich schonungslos auf uns wirken lassen müssten.
Die Frustration eines Lebens, dem sich überall Barrieren entgegenstellen, und die Wirklichkeit der grenzenlose Liebe Gottes, … die Verletzung eines stigmatisierten oder auch nur übersehenen Andersseins und den Zuspruch der vollkommenen Gnade, … die Müdigkeit derer, die an sich oder anderen immer wieder scheitern, und die ohne Verdienst ausgegossene Hilfe Gottes, … die vollständige Ohnmacht des ungeborenen Lebens, dessen Tötung man in diesen Wochen vor Weihnachten von Unrecht zu Recht erklären will, und die ewige Treue Gottes zu jedem einzelnen Seiner Geschöpfe, … alle diese wunden Punkte und himmelschreienden Schmerzen und Brüche in der Menschheit sind die psychosomatische Landschaft und Körperlichkeit, in der Gottes Ankunft erwartet wird.
Diese krass organisch gedeutete, diese medizinisch gelesene Landkarte der Welt, in die der Advent Gottes steuert, findet eine eindrückliche Bestätigung, eine Authentifizierung in jener unvergleichlichen Bibelübersetzung, die unter grausamsten Krankheitsbedingungen geschaffen wurde: Franz Rosenzweig war durch ALS vollständig gelähmt und eingemauert bis auf wenige noch möglich Mundbewegungen; schließlich aber blieb ihm nur noch das Diktieren durch die Zuckung seiner Augenlider, deren Wimpernschläge einen Buchstaben-Code ergaben. In seiner unter solchen Märtyrer-Qualen gemeinsam mit Martin Buber verfassten Übersetzung des Propheten Jesaja lautet die große Adventsfanfare des herannahenden Heilers aller Gebrechen:
„Erschlaffte Hände stärket,
festiget wankende Knie,
sprecht zu den Herzverscheuchten:
Seid stark,
fürchtet euch nimmer,
da: euer Gott,
Ahndung kommt,
das von Gott Gereifte,
er selber kommt
und befreit euch!“
Gottes kardiologische Kur durch Angstüberwindung, … Seine befähigende Physiotherapie an den Händen, die nichts mehr ausrichten, den Gelenken, die nichts mehr standhalten können, … Seine stärkende Behandlung der entmutigten und entmündigten und entkräfteten Menschheit gipfelt in dem wunderwirkenden Schockmoment eines lauten und unerwarteten: „Da: Euer Gott!“
Wer diesen Impuls der tatsächlichen Gegenwart Gottes durch alle Glieder fahren spürt, … wer erlebt, wie diese Stimulation der gelähmten Hoffnung, des abgestorbenen Glaubens, der erkalteten Liebe durch Mark und Bein strahlt, weil Gott wirklich da ist, weil Er tatsächlich nicht jenseits, sondern hier erscheint und nicht körperlos, sondern mit einem Körper, ja in einem Körper anwesend ist und handelt und hilft: Den packen die Kräfte der Wiederherstellung, die bei Luther „Rache“ und bei Rosenzweig „Ahndung“ genannt werden und die in beiden Fällen keine juristische Kategorie bezeichnen, sondern den Vorgang, von dem das allerschlichteste Abendlied singt: „Deine Gnad und Jesu Blut / macht ja allen Schaden gut“ (EG 484,2)!
Gottes Advent ist also wie in allen Wunderheilungen Jesu auch eine durch Ihn ausgelöste körperliche Reaktion gegen die Minderung und Zerstörung der menschlichen Lebenskraft. Gottes Advent wird einst den Triumph der Abwehrkräfte bedeuten, die die gesamte Menschheit gegen den Tod braucht. Gottes Advent wird – wenn er sich vollständig und unendlich erfüllt hat – das ausbreiten und übertragen und zu umfassender Entwicklung bringen, was bei Rosenzweig und Buber als „das von Gott Gereifte“ begegnet.
Von dieser - treffenden - Übersetzung her ergibt sich nun aber ein faszinierender Ausblick darauf, weshalb wir immer wieder Advent feiern, obwohl sich die körperliche Ankunft Gottes, seine leibliche Gegenwart damals und seine leibliche Präsenz auch heute noch bei uns im Sakrament doch längst vollzogen haben und vollziehen. …
… Der Heiland ist ja schon gekommen.
Der Himmel und Erde in Ehrfurcht versetzende Ruf „Seht, da ist euer Gott!“ ist in staunenden, rätselhaften, geheimnisreichen Variationen über den Fluren Bethlehems (vgl. Lk.2,11), aus der Höhe überm Jordan (vgl. Joh.1,34), aus der Wolke am Berg der Verklärung (vgl. Mk.9,7), ja sogar am Fuß des Kreuzes von Golgatha (vgl. Mtth.27,54) lautgeworden.
Weshalb also begeben wir uns immer wieder neu in die Erwartung, weshalb erfahren wir uns immer wieder dennoch als Harrende und Hoffende, weshalb singen und beten wir, wie Jahrtausende und Jahrhunderte vor uns schon Jesaja und Friedrich von Spee (vgl. EG 7) auch heute noch „O Heiland, reiß die Himmel auf! – Wo bleibst Du, Trost der ganzen Welt?“
Der Blick auf unsere eigenen, aber mehr noch der Blick auf die Körper der anderen beantwortet es uns: Weil wir Menschen immer noch die Müdigkeit und Hinfälligkeit, die Hilfsbedürftigkeit, zuletzt auch immer noch die Sterblichkeit mit uns herumschleppen, die schließlich am Ziel aller Advente behoben und vergangen sein werden.
Die umfassende, allen zuteilwerdende Heilung und Wiedergutmachung, von der der Prophet spricht, sind noch nicht universal.
Die Verwandlung der dürren und immer mickriger kümmernden Natur in grünende Fruchtbarkeit und unverbrüchlichen Frieden ist noch nicht erreicht.
Die Sicherheit in unserer zutiefst verunsichernden Welt ist noch nicht eingetreten.
Krankheit, Verschmachten und Mord sind noch immer real. ――
… Doch wir Christen können und müssen das andere ebenfalls bezeugen: Gottes Gegenwart in einem anfälligen, durstigen und tödlich verletzbaren menschlichen Leib ist tatsächlich noch viel realer … weil um so vieles wunderbarer!
Die Verheißung des Advent, der den Menschen Genesung und Gedeihen bringen wird, hat sich in der Menschwerdung Gottes erfüllt.
Und seit Jesus gekommen ist, seit das Heil, das in Ihm ist, sich auf die, die Er berührte oder die nach Ihm fassten, heilend übertrug, wächst die Verheißung des Advent weiter.
Jeder Menschenkörper ist letztlich ja ein Gefäß, eine Form, die endlich dazu bestimmt ist, aufzunehmen, was da von Gott her, durch Seine Menschwerdung an unzerstörbar Gutem reift.
Gewiss: Wir wissen nur allzu schmerzhaft – auch wenn wir so selten wirklich mit den Körpern der Anderen denken, fühlen, fiebern und mitleiden –, dass nicht jeder Mensch hier durch Wunder- und durch Glaubenskraft wiederhergestellt wird.
… Aber noch viel gewisser ist kein Leben und auch kein Sterben mehr heillos, seit Gott in die Realität gekommen ist! Auch wenn „noch manche Nächte fallen auf Menschenleid und -schuld“ (vgl. EG 16,4), ist der heilige Weg doch unumkehrbar eröffnet, auf dem sämtliche Lebenden und sämtliche Gestorbenen als die Erlösten des HERRN wiederkommen und in Zion jauchzend ewige Freude erfahren werden.
Dann werden Schmerz und Seufzen entfliehen und vom Scheitel bis zur Sohle, innerlich und äußerlich werden wir sein, was der Prophet als die Verheißung, die von Gott her reift, uns allen zusagt: Stark und fest, gesund und getrost, sehend, hörend, leichtfüßig und lobend.
Die Menschwerdung Gottes wird sich in der Heilung jedes einzigen Menschen vollenden.
Und dann wird es am Ziel nur noch heißen: „Da!“
Und wird nur noch sein: Gott!
… Und wir ganz heil und vollständig in Ihm!
Amen.
1. Advent, 01.12.2024, Matth. 21, Tersteegenkirche, Jonas Marquardt
Am ersten Advent hielt Pfarrer Jonas Marquardt aus Kaiserswerth den Gottesdienst in der Tersteegenkirche, während Pfarrer Jürgen Hoffmann in Kaiserswerth predigte - ein "Pfarrertausch" also. In seiner Predigt, der das Evangelium nach Matthäus, Kapitel 21 (Jesu Einzug nach Jerusalem) zugrunde liegt, spricht Pfarrer Jonas Marquardt über die Notwendigkeit und Schwierigkeiten von (Neu)Anfängen - denn jeder Anfang ist auch ein Abschied. Der aber nur dann schmerzt, wenn darin nicht unser Herr ist, denn "unser Herr ist anders!"
Die Predigt gibt es diesmal für die Ohren, auf dem Podcastkanal der Tersteegen-Kirchengemeinde:
Ewigkeitssonntag, 24.11.2024, Stadtkirche, Psalm 126, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ewigkeitssonntag - 24.XI.2024
Psalm 126
Liebe Gemeinde!
Es gibt drei Wirklichkeiten, die uns erlauben – vielleicht sollten wir sogar sagen: die uns zwingen – tiefste Bewegungen unsres Seelenlebens vorherzusagen.
Drei seelische Fakten (wenn man so will) sind derart stark, dass sie auch das Unterbewusste berechenbar machen: Liebe und Trauer sind zwei dieser ursächlichen Kräfte, deren vorhersehbare Folgen die Psychologie bis in das Reich des Irrationalen ankündigen kann, um sie im Nachvollzug dann auch zu verarbeiten. Beide – das glückliche Lieben und das schmerzerregende, angsterfüllte Trauern – treffen sich im Begehren, im Verlangen, in der Sehnsucht, die stärker wirken können, als der nüchterne Verstand es aushält. Dann überlässt die Seele sie der unbeschränkten, unbezähmbaren Macht des Inneren, die ohne Verstehen und ohne Erklären auskommen muss. … Und aus dem Tageslicht des Begriffenen wandern die Liebe und die Traurigkeit, die mehr sind als wir begreifen können, in das dämmerhafte Land der Träume.
… Dort nämlich sieht man sie: … Die Geliebten, … die Beweinten. Dort ist man ihnen nahe: … Den Angehimmelten, … den Abgeschiedenen. Was das Wünschen und das Vermissen endlos anheizt, das ist im Traum gewährt, ist Gegenwart.
… So kennen’s alle, die verliebt sind. … Und alle Hinterbliebenen auch: Wer das Schönste erlebt, das Schwerste erleidet, dem begegnet es über kurz oder lang in seinen Träumen, … den wunderschönen der Erfüllung, … den namenlos bitteren des spätestes beim Erwachen immer wiederkehrenden Abschieds. ——
Und nun gibt es noch eine dritte Urkonstellation der Seele, die auch träumen macht: Ein drittes Grundmotiv des Menschseins, das genau wie Eros und Thanatos – der Anfangs- und der Endschub des irdischen Lebens – ganz sicher in die Welt führt, in der das mit aller Kraft Gewünschte Gegenwart ist.
Die dritte Kraft ist unser Glaube.
Auch vom Glauben gilt, dass er über das, was wir begreifen und bewältigen können, hinausgeht. Und dass die große Verheißung, auf der er ruht, und die noch größere Hoffnung, die er weckt, zum Träumen sind, … ja, dass sie uns wie das höchste und das endgültigste der Gefühle unwiderstehlich in jenes Reich versetzen, in dem wir finden, was wir suchen.
Diese Tatsache hat Menschen immer wieder dazu verleitet, sich lustig über den Glauben zu machen und sich über ihn erhaben zu dünken: So lustig wie nur ganz traurige und so erhaben wie nur ganz niederträchtige Menschen sein können.
… Denn nur solche würden doch von der Liebe und vom Schmerz sagen, sie seien unter ihrer Würde, weil sie etwas vorgaukeln, das nicht wirklich ist.
Dass innere Nähe und äußere Trennung – Liebe und Tod also – uns beide zutiefst mit etwas verbinden, das nicht greifbar sein muss, um doch wahr zu bleiben, das spricht gewiss nicht gegen ihren Ernst, sondern vielmehr dafür! – Stärker als alles andere sind doch ohne Zweifel die, die nicht vom Vorhandenen begrenzt werden.
Und so ist auch der Glaube: Eine verbindende, Schranken von Raum und Zeit, von Angst und Not überwindende Wirklichkeit, die nicht nur im Rationalen, sondern auch im weitaus größeren Feld dessen, was über Wahrscheinlichkeit und Logik hinausgeht, wirkt und Wahrheit schafft. Auch der auf die Liebe hoffende Glaube öffnet die Tür zu den Visionen und Erfahrungen, die uns zeigen, woran wir hängen, … die uns geben, was wir brauchen, … die uns genießen lassen, was uns überall sonst verwehrt bleibt.
Auch wer glaubt, wird also über kurz oder lang wie alle, die lieben oder weinen, träumen. ———
„Opium“ sagen die einen dazu: „… Halluzination. … Vorspiegelung. … Wahn.“
Doch die Beter unseres heutigen Psalms – die, die in Israel lebten, … die, die in der Verbannung von Babylon schmachteten, … die, die jahrtausendelang in der Diaspora verblühten, … die, die um des Messias willen in den Katakomben Zuflucht suchten, … die, die Glanz und Grauen Europas erlebten, … die, die in KZ und Gulag, in Sklavenhütten und Strafkolonien ihr Elend bauten und bauen, weil man Juden verfolgt und Christen, … die, die von der Hamas geraubt wurden und die, die von den Israelis ausgehungert werden … – alle Beter unseres heutigen Psalmes sagen den Verächtern, den Lästerern, den stolzen, klugen, sicheren Gottlosen ein noch stolzeres, klügeres und sichereres Wort: „Wir w e r d e n s e i n wie die Träumenden!“
Ich wüsste kein herrlicheres Wort, keine ruhigere, stillere, stolzere Entkräftung der gesamten, trostlosen Religionskritik, mit der sich die sogenannten „Realisten“ im Trüben absichern gegen das Helle. Ich kenne kein bescheideneres, versöhnlicheres, reineres Geständnis, das man den sogenannten „Kritischen“ machen könnte, die das Schlechte, das sie kennen, verteidigen gegen das Bessere, das ihnen fremd ist.
„Ihr lebt im Reich der Wünsche! Nichts als Eure Projektionen habt Ihr! Man macht Euch allen etwas vor!“, sagen sie uns und gehen heim vom Friedhof, und das war das. ——
Und wir, mit dem Psalm auf dem Herzen, … wir, die der Psalm durch die Dunkelheit und die Trauer und den Schmerz der Jahrtausende und jedes Tages begleitet, … wir, die weinend gehen und unsren Samen streuen, … wir, in der Welt, in der die Gefangenen Zions nicht heimkehren nach dem 7.Oktober und in der es so viele gibt, die von anderer Gewalt beherrscht werden oder von der Sinnlosigkeit der Zukunft an die Kette gelegt sind oder deshalb an ihre Sucht nach Rausch und Vergessen gefesselt oder von schädlichen und trügerischen Ersatzstoffen für ein lohendes Leben abhängig sind, … wir, die uns sagen lassen sollen, dass da spinnt, wer diese Welt und ihren Kummer nicht für das letzte Wort und einzig Wahre hält:
Wir sagen mit dem Psalm ganz einfach dazu „Ja!“.
„Ja, unsre Wünsche und unsre Ziele und das, was vor uns liegt, sind nicht wie sonst die Dinge dieser Welt. Ja, denn tatsächlich sind sie nicht von dieser Welt, da ja auch wir - wie der Dichter sagt - »von solchem Stoff sind, aus dem Träume sind«[i]. Aus solchem Stoff ist darum auch die Hoffnung, … ein Stoff, aus dem man keine Bilanz und keine Waffen macht. Und darum liegen die Hoffnung und alles, was sie uns verspricht, wie die Saat verborgen im Dreck – und das unter dem täuschenden Eindruck einer verschrumpelten, vertrockneten, ganz und gar vergangenen Leblosigkeit.
Und Ja!, tatsächlich keimt deshalb in uns etwas, das sich noch nicht sehen lassen kann und dass man noch lange nicht wird zählen können, bis es zu viel zum Zählen sein wird, weil es unendlich ist.
Ja, Ihr habt Recht! In uns lebt verborgen etwas, was niemand zeigen kann. In unserm Glauben, in dem Wort und Brot, die uns speisen, in unseren Gebeten, Liedern, Feiertagen und Gottesdiensten, da wächst heran, was allem widerspricht, was man für abgeschlossen und gesichert hält. Ein Neues, eine Entwicklung, eine Kraft reift unterhalb des Alltags und des Tageslichtes, … unterhalb des grellen Blinkens und der Neonröhren in den Krankenhäusern, … unterhalb der kalten Kerzen in den stillen Leichenhallen, … unterhalb der beklommen wortlosen oder - schlimmer noch! - der geschwätzigen Friedhofskapellen, in denen man kaum mehr singt und betet, … ein Ungeahntes, Unbekanntes, ganz Vertrautes und doch nie zu Begreifendes wächst unter allem aus den erst mit toten Blütenblättern und dann mit schwerer Erde zugeschütteten Gräbern!
Und wenn wir’s auch nicht nennen können und selber kaum ahnen, kaum fassen, kaum glauben können: Ja!, Ihr habt Recht. Wir müssen Euch unheimlich in unserer Unbelehrbarkeit sein. Wir müssen Euch töricht in unserer Zuversicht, albern in unserer ergebnislosen Ausdauer, bemitleidenswert in unserer Naivität erscheinen.
Und Ja!, auch darin habt Ihr schließlich Recht, dass wir Gedanken und Bilder, Versprechen und kühne Vorwegnahmen teilen, die überall als Wunschdenken, als simpel verarbeiteter Kummer, als umgewandelte Ohnmacht, als nicht-ertragene Verzweiflung gelten.
Ja!, Ja!, und nochmals Ja! Wie allen, die lieben und allen, die trauern, geht es uns Christen tatsächlich. Wir träumen. Wir träumen von dem, was das Leben schuldig bleibt, …träumen von dem, was der Tod uns unwiederbringlich zu entreißen schien, … wir träumen von dem, was noch nie war und alle sich wünschten, wenn sie an das Wünschen noch zu glauben wagten.
Und Nein! Nein!, es ist uns nicht peinlich. Wir kommen uns darum nicht unreif oder unmodern vor. Solange Liebe und Sterben nicht aus der Mode kommen oder verboten sind, so lange werden sie und wird auch der Glaube unweigerlich zum Träumen führen!“
Freilich mit einem Unterschied:
Die Träume der Verliebten sind kein Ziel an sich und keine Erfüllung, sondern Schäume. Aus ihnen kann und soll Fleisch und Irdisches werden. Dann vergeht das Bild und beginnt das Sakrament der Tat und des täglichen Brotes.
Und die Träume, die uns als Hinterbliebenen geschenkt oder zugemutet werden – so entlastend sie in der unerträglichen Einsamkeit auch sein mögen –, … die Träume der Trauer platzen alle doch im erschütternden Eurydike-Moment, wenn der Orpheus in uns, der das geliebte Wesen aus dem Tod herausführen wollte, sich umdreht und wiederum im Abgrund sich verliert, was beinah zu uns hinüber gerettet schien.
Liebe lässt also - wenn sie glückt - die Träume um der Wirklichkeit willen irgendwann hinter sich. Und irgendwann lassen die Träume die Trauer - wenn sie gelingt - in Ruhe zu anders geordneter und getragener Erinnerung gelangen.
Bloß der Glaube träumt nicht aus.
Und schämt sich dessen nicht nur nicht. … Im Gegenteil!
Der Glaube bekennt gegen alle traum- und trostlose Nüchternheit, dass das kein vorübergehender Ersatz ist, wovon er träumt, wenn ihn ein Leben ohne Schmerz und Tod erfüllt.
Der Glaube bekennt ohne rot zu werden, dass das keine kindische Phantasie, sondern wirklich gültige und bleibende Lebenserwartung ist, was ihn im Blick auf alle Zukunft bewegt.
Der Glaube bekennt im klaren Wissen um den Spott, den er erregt, dass er nicht geschäftsmäßig auf den denkbar schlimmsten Fall eingestellt ist, sondern einer immer größeren Leichtigkeit, einer immer ungehinderteren Lebenslust, ja einem vollen, schallenden, tiefen und alles umfassenden Lachen entgegensieht.
Voll Lachens und Rühmens sieht der Glaube seiner Reifung und schließlich seinem Erblühen und Aufgehen im endlosen, seligen, lustigen Schauen entgegen. Nicht abgeklärt, nicht von enttäuschter Erwartung verbittert, nicht entsagungsvoll ohne alle weiteren Ansprüche zufrieden mit dem Wenigen, das bleibt, sondern völlig und gänzlich und heilsam und heilig in die Wirklichkeit des Guten gestellt, in der das Verlorene gefunden, das Zerbrochene heil, das Gequälte entschädigt, das Erschöpfte verjüngt ist, … in die kommende Wirklichkeit eingegliedert, in der das Entstellte wieder schön, das Missachtete geliebt, das von der Schuld Verhunzte durch die Gnade wieder zum Strahlen gebracht wird: Das ist die Aussicht, wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird.
… Nicht nur die in Ägypten oder Babylon Gefangenen oder die nach Gaza verschleppten Geiseln oder die heutigen Kriegsgefangenen oder die Foltergefangenen in den chinesischen, den iranischen und nordkoreanischen Lagern für Dissidenten und Christen, auch nicht nur die noch lebenden Mitgefangenen von Alexej Nawalny im sibirischen Straflager Nr.3 „Polarwolf“ oder die in den italienischen Abschreckungslagern in Albanien Eingepferchten, auch nicht nur die Verschwundenen in allen Diktaturen oder die absichtlich Vergessenen von Guantanamo oder die Unvorstellbares duldenden und ausbrütenden Tausende in den Drogenknasts Südamerikas, … sondern uns alle, die wir in der apokalyptischen Angst und der atheistischen Hoffnungslosigkeit und der albtraumhaften Klimafalle unserer eigenen Gegenwart festsitzen!!!
Der HERR wird die Gefangenen alle erlösen!!!
Jeden einzigen Menschen, der nicht entkommen kann aus der großen Müdigkeit und der stummen Einsamkeit, die der Tod unserer Angehörigen und der Tod, der uns selbst bevorsteht, auslösen können.
Und dann – so sagt es der Glaube mit den einzigartigen Worten unseres herrlichen Psalms – dann werden wir sein wie die Träumenden!
Diese klare, unbeirrte, in ihrer Eigenartigkeit wirklich schon hier zu lautem und jubelndem Lachen reizende Auskunft gibt wahrhaftig nur der Glaube: So sicher, dass wir nicht nur vermutlich nächtlich träumen werden, sondern dass wir bei vollem Bewusstsein wie die Träumenden werden sein und bleiben dürfen, macht keine Gemütsverfassung sonst uns Menschen.
Bei allen anderen seelischen Erlebnissen und Erschütterungen könnte ja auch der tiefe, völlig im Unbewussten verlaufende Schlaf uns überkommen.
Aber dem Glauben steht bevor, dass er hellwach und mit jeder Faser erlebnisfähig sein wird für eine Welt, wie nur die Träumenden sie kennen: Nur dass dort nichts mehr endet! Kein Abschied von Eurydike mehr! Kein grauer Morgen nach einer Nacht der Illusionen! Kein Zerfließen dessen, was schön gewesen wäre, aber doch nicht war … !
Nein! Wir w e r d e n s e i n wie die Träumenden!
Nicht weniger real, sondern wirklicher als alles, was wir bisher kennen.
Nicht unsicher im Ohngefähren, sondern für immer versehen und umgeben mit allem, was sonst als Wunschgebilde galt.
Wir werden das, was man für Utopien hielt, als reine Wahrheit erfahren (vgl. Offenb.21,4): Dass Leid und Geschrei und Schmerz nicht mehr sind. Dass alle Tränen abgewischt wurden. Dass der Bräutigam - Gott selber also - endlich gekommen und nun in unserer Mitte da ist[ii] (vgl. Matth.25,6). Dass das Fest darum unendlich währt. Und jeder, der uns fehlte, jeder, den man vermisste, dabei gegenwärtig sein darf und niemand jemals mehr verschwindet.
Und nur der Tod dann nicht mehr ist.
Sondern das, was der spanische Barock-Dichter bloß als tragikomische Parabel[iii] zu schreiben wagte, tatsächlich stimmt: „La vida es sueño“ – das Leben ist ein Traum. Unendlich. Voller Lachen. Volle Saat der Freude, die zum Leben gereift ist.
Denn das sollten wir nie vergessen: Das letzte Wort des Glaubens, das letzte Wort des Glaubensbekenntnisses ist und bleibt … „Leben“!
„Ewiges Leben“!
Amen.
[i] „We are such stuff as dreams are made on” heißt es in Shakespeares “Tempest” Akt IV, 1.Aufzug.
[ii] Evangelium des Ewigkeitssonntags
[iii] Pedro Calderón de la Barcas (1600-1681) gleichnamiges Schauspiel von 1635 wurde später von ihm selbst zu einem geistlichen Schauspiel umgearbeitet und erfuhr auch in Deutschland eine reiche Wirkungsgeschichte, die sich nicht zuletzt in zahlreichen Übersetzungen und Bearbeitungen deutschsprachiger Dichter zeigt.
In Aufnahme des Calderon’schen Motivs verknüpft Johann Gottfried Herder das barocke Vanitas-Empfinden mit der barocken Mystik eines Angelus Silesius auf theologisch souveräne Weise in einem kurzen, vollendeten Gedicht (in: Der ewige Brunnen - Ein Volksbuch deutscher Dichtung, gesammelt und hgg. von Ludwig Reiners, München 1955, S.872):
Ein Traum, ein Traum ist unser Leben
Auf Erden hier.
Wie Schatten auf den Wogen schweben
Und schwinden wir,
Und messen unsre trägen Tritte
Nach Raum und Zeit;
Und sind (und wissens nicht) in Mitte
Der Ewigkeit.
23.So. n. Trinitatis, 03.11.2024, Stadtkirche, Römer 13, 1 - 7, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 23.n.Trin. - 3.XI.2024
Römer 13, 1 – 7
Liebe Gemeinde!
Ein letztes Wort zuerst: „Es wird regiert!“
Wer das Zitat kennt, wird sich freuen; wem’s dagegen fremd ist, darf genauso froh sein. —
Über das Chaos und die Ordnung in der Welt, über die Gewalt - ihr Recht und ihre Begrenzung -, über das menschliche Miteinander in seiner Freiheit und Bindung, über das Tägliche, Vorläufige, Vorletzte in seiner jetzt nötigen und verpflichtenden Gestalt sollen wir heute also apostolisch gelenkt, biblisch begründet nachdenken: Über die Politik.
… „Das passiert in unsern Kirchen ja beinah immer“, mag man sagen. … „Und ist meistens ein erbärmlicher Schmarrn“, mag man sagen. Weil der blödsinnige Ausverkauf so total ist: Andauernd werden die Gabe und Aufgabe des Glaubens ins Politische gemünzt, aber umgekehrt wird der politische Auftrag fast nie zu treuer Pflege und großzügiger Ausbreitung des Schatzes unsres Glaubens wahrgenommen.
– „Wegen der Trennung von Staat und Religion“, erklärt man Letzteres.
– Schon Recht. … Aber wer Religion hat und politische Gestaltungsmöglichkeiten, kann doch nicht den religiösen Imperativ zwar politisch, den politischen dagegen aber nur nicht-religiös verwirklichen.
Wie also hältst Du’s mit der Politik, mit dem Staat, mit den Errungenschaften und der Verantwortung, die Dir die Gesellschaft und ihre Verfassung anbieten, lieber Christenmensch?
Das ist eine Frage voller Belang in einer Zeit, in der alle Strukturen des Gemeinwesens weltweit unfreiwillig auf dem Prüfstand, oft gar auf der Kippe stehen:
Demokratien erlöschen vor unseren Augen, weil zu wenige dafür brennen, nüchtern Verständigung und Ausgleich zu suchen, während leidenschaftlicher Eigennutz so triebhaft einfach wirkt. Gewaltlust und Gewaltherrschaft wälzen sich wie Lavaströme über vor Kurzem noch Alltäglichkeit vortäuschende Landschaften, und der Traum einer einigen Menschheit ist von vielen Seiten gesprengt worden gerade in dem Zeitalter, das allen miteinander ein riesige, gemeinschaftliche Rettungsaufgabe vorgibt.
Wir lassen die Ebene der Zivilisation hinter uns und vor uns türmt sich das Gebirge des wilden Hasses aller gegen alle, in dessen Schluchten der Abgrund der totalen Destruktion gähnt.
Und auch da, wo politische Spielräume und Geisteskräfte noch offene Bedingungen ergeben, lähmen die Nebeldämpfe und Gifte des Kleinmuts und Misstrauens die Wählenden und Handelnden. Die Agonie unserer eigenen Regierung ist eine Tragödie im Gewand einer Farce. —
Doch nun zur biblisch inspirierten Sicht auf die weltlichen Kräfte und Machtverhältnisse: Niemanden wird es wundern – weil die Bibel das Buch der Bücher, das eine Wort für alle an sich verschiedenen und zu unterscheidenden Weltwirklichkeiten ist –… niemanden also wird es wundern, dass es das denkbar breiteste Spektrum in den prophetischen und apostolischen Sichtweisen auf die verfassten Rechts- und Ordnungsformen der Völker, Nationen und Imperien gibt.
Es gibt die markanten Bedingungen und Ideale einer auf Ehrfurcht vor Gott, dem Anwalt, Beschützer und Rächer aller Angewiesenen beruhenden Lebensform, die in Israel zwischen einer charismatischen Basisdemokratie der Volkstribune bei den Richtern und der theokratischen Monarchie der guten Könige David, Hiskia (vgl. 1.Könige 18ff und bes. 2.Chronik 29ff) und Josia (vgl. 2.Könige 22f) pendelt. Und es gibt die nach dem Verlust der eigenen Staatlichkeit immer leidgeprüfter ausgeweitete Erfahrung der Bereitschaft sowohl zu Kooperation wie zu religiöser Selbstbehauptung gegenüber einer Fremdherrschaft. Ertragen von Verbannung oder Besatzung und Treue im Reservat des inneren Exils hat das Volk Gottes beide geübt.
Und der Messias Israels und seine Apostel haben sie uns - der Kirche - beide vorgelebt. Noch dazu dem gleichen Staatsgebilde gegenüber!
Jesus, der dem Kaiser bei der Frage nach der Steuer seinen Tribut ließ (vgl. im Sonntagsevangelium Matth.22,21), wusste dass er damit die Maschine ölte, in deren Machtmechanik ihm sein Todesurteil bestimmt war.
Die säkulare Weltreichs-Parodie auf das Reich Gottes hat er also nicht delegitimiert, … doch er starb - obwohl nach Roms Gesetzen - dennoch nicht wegen Roms Recht.
Dieses selbe Rom aber, in dessen Namen das eine zeitlose Unrecht geschah, das allen Zeiten jene Gerechtigkeit eröffnete, die vor Gott gilt - die Gerechtigkeit, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus (vgl. Rö.3,22) - dieses selbe Rom wird von den Aposteln auf zwei völlig verschiedene Weisen beurteilt:
Der einzige Apostel mit römischem Bürgerrecht, Paulus, der unter Nero als Angeklagter strikt nach römischer Rechtsordnung hingerichtet wurde, und Johannes, der Lieblingsjünger des Herrn, der unter dem tyrannischen Kaiser Domitian das Martyrium um Christi willen fand, könnten im Blick auf die Weltmacht gegensätzlicher nicht sein.
Für Johannes ist Rom die apokalyptische Anti-Zivilisation des himmlischen Jerusalem, … das bestialische Prinzip (vgl. Offenb.13), die Hure Babylon (vgl. Offenb.17). Die immanente Macht des alten Äon bedeutet für den Zeugen der Offenbarung der neuen Welt Gottes also reinen Schreck und Drohung.
Für Paulus dagegen, den Weltmissionar, der auf römischen Straßen wanderte und sich öffentlichkeitswirksam vor römischen Zivilbeamten (vgl. Apg.24f) verteidigte, ist das Verwaltungs- und Justizwesen des Imperium der Rahmen, in dem sich Sammlung und Sendung der christlichen Vielvölkergemeinde vollziehen können.
Zwei vollkommen verschiedene Bilder des global Politischen sind das: Als feindliches Prinzip der Kinder Gottes und ihrer Heimat oder als gestaltbar Gegebenes für ihren Auftrag unter den Menschen.
Weshalb es wichtig ist, dass wir dieses biblische Sowohl-als-auch vor Augen haben – das keinen Widerspruch, sondern eine Ausstattung für Sommer und Winter, eine Ausrüstung für die Wechselfälle der Weltgeschichte bedeutet – … weshalb es also wichtig ist, uns zu erinnern, dass nicht nur die johanneische Kraft der Gegenwelt und auch nicht allein die pauli-nische Dynamik der Weltgestaltung schriftgemäß sind? – Um dem notwendigerweise immer bloß ideologischen Standpunkt vorzubeugen, dass es dogmatisch nur einen, „wahren“ christlichen Ansatz in politischen Streitfragen und Lösungsversuchen geben könne.
Neben der berühmten, im Protestantismus viel zu lange exklusiv herrschenden Obrigkeitslehre von Römer 13 gibt es eben auch die Widerstands- und Verweigerungstraditionen der Märtyrer und der Nonkonformisten im Geist, im Gewissen und im Glauben. ——
Jetzt endlich aber zu der Stelle, die so tief bei uns gewirkt hat, dass sich die reformatorische Kirche im lutherischen Bereich überall unter das sog. „weltliche Schwert“ Gottes beugte, das sie in den Feudal- und Landesherren am Werk sah. Sie machte sich darum konsequent und unterwürfig abhängig von den Kurfürsten, den Landgrafen und später den Königen, denen das „Summepiskopat“, das landesherrliche Kirchenregiment zukam.
Der Wahnsinn dieser Verwechslung von Macht und Recht hat zu absurden Irrungen geführt: Mein eigener Urgroßvater etwa, bolleriger und gewiss auch bornierter pommer’scher Pfarrer, ließ seine nach 1918 volljährigen Söhne gegen die familiäre Tradition nicht mehr Theologie studieren, weil in der Republik ja eine führungslose Kirche entstanden war, die ohne kaiserliches Haupt keine gültige Verfassung mehr haben konnte!??? …
Dass nun allerdings Paulus gesagt haben sollte, nur die weltliche Obrigkeit, als Gottes Dienerin könne bis in die Kirche hinein für Ordnung sorgen, das steht wahrhaftig nicht im 13. Kapitel des Römerbriefes. Von zwei einander bedingenden Regimenten oder Regierungsweisen Gottes, von den später so genannten beiden Reichen einer strafenden äußerlichen Gewalt - dem Staat - und einer gnädigen innerlichen Seelenführung - durch die Kirche - ist hier nicht die Rede[i].
Sondern vom herrlich mutigen, ja übermütigen Vertrauen dessen, der alleine in der Kraft des Heiligen Geistes die weltweite Anerkennung eines von der römischen Justiz zum Tode Verurteilten als Richters und Retters der gesamten Menschheit anstieß.
Dass ausgerechnet Paulus, der sich mit seiner Predigt gegen das Urteil der Weltmacht stellte, in dieser Macht nichtsdestotrotz die schützende, ordnende, friedenstiftende Funktion erkannte und guthieß, … dass er in den weltlichen Strukturen des Staates eine Kraft sah, die der Freiheit seines Gewissens und der Aktivität seiner Begeisterung einen Rahmen eröffnete und der Verkündigung von Jesus Christus über Grenzen der Sprachen und Sitten hinweg geradezu einen Weg bahnte, … dass Paulus also im Raum und in den Regeln des Politischen die Gelegenheit erkannte, die nur so für das Werk, das alle Menschen betrifft, gegeben sind: Das ist ein bleibender Maßstab.
Paulus hat damit nicht den Grundsatz vertreten, dass alles, was die weltliche Instanz anordnet, wie göttlicher Befehl befolgt werden müsse, sondern dass die Tatsache solcher weltlichen Instanzen der planenden Zulassung, dem Ordnungswillen Gottes entspricht:
Dass es in der Welt nicht nur wild entfesselte, sondern zweckgebundene Gewalt, … dass es im Miteinander nicht nur anarchische Willkür, sondern verfasste Mandate[ii] gibt, … dass Menschen nicht zügellos, sondern in prüfungs- und dann auch bewertungs- und schließlich auch sanktionsfähiger Rechenschaftspflicht existieren, das ist ein im Willen Gottes begründeter und begünstigter Zustand, zu dessen Erhaltung und Einhaltung Paulus seine Gemeinde ermahnt.
Im gegenwärtigen katastrophalen Schwinden dieser Erkenntnis wird sein Aufruf zur Mitwirkung an dem, was die säkulare Regierungsgewalt gewährleisten kann, geradezu dringlich. Wenn wir uns die Verachtung für das Gemeinwesen, die schamlose Vermeidung von Steuer- und Solidaritätspflichten, die immer brutalere Respektlosigkeit gegenüber Ordnungs-, Hilfs- und Rettungskräften, die immer unverhohlenere Infragestellung aller Autoritäten und allen Rechtes vor Augen führen, dann wird aus dem Grundsatz, jedermann solle sich in die Bedingungen unter gegebener Obrigkeit einordnen, kein staatsfrommer Befehl zum Kuschen, sondern ein zeitgemäßes Ethos, ein Rückruf zur Ordnung und zu konstruktiver Kooperation.
Umgekehrt lehrt uns die verantwortungsscheue und entscheidungsschwache Regierungsführung, die wir angesichts der beklemmend großen und gigantisch komplexen Kriegs- und Klimanotstände in der Politik der liberalen Demokratien erleben, tatsächlich noch eine ganz andere Seite des paulinischen Obrigkeitsethos: Es gilt nicht nur, zur christlichen Kooperation mit denen aufzurufen, die das menschliche Miteinander vor Zerfall und Anarchie schützen sollen, sondern wo der Auftrag dazu besteht, da muss er tatsächlich auch ausgeübt werden! … Schmerzhaft und unpopulär bis zur Erfahrung, ja sogar bis zur Notwendigkeit, dass das Walten der Macht als Schranke und als Strafe wirkt, muss regiert werden. Sonst schwemmt der furchtbare Strom der losgelassenen Zerstörungskräfte, wo ihm nicht hart gewehrt und klar gegengesteuert wird, die Ordnung und mit ihr das Recht davon: Wir brauchen regierende Regierungen und an deren Verantwortung mitwirkende, in deren Gestaltungsrahmen sich einordnende Bürger. … Nicht weil Staat und Politik eigengesetzliche Selbstzwecke wären. Sondern weil der gesamte Sinnzusammenhang des Obrigkeitskapitels Römer 13 gerade nicht in ihm selbst zu finden ist, da die Kapitelabgrenzung ja spätere, nicht immer sinnvolle Einteilungen abbildet.
Der Leitsatz des so positiven, mutigen und ermutigenden Blickes, mit dem Paulus diejenige Ordnung würdigt, die ihn zwar das Leben kosten, aber gleichzeitig unfreiwillig dennoch dem Evangelium und der Kirche die Zukunft eröffnen wird, … der Leitsatz der politischen Theologie des Apostels ist der letzte Vers von Kapitel 12, in Wahrheit der Obersatz alles dessen, was folgt: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem!“
Dem Guten zur Durchsetzung zu verhelfen, dem Evangelium und mit ihm der Liebe Gottes und Seiner Gerechtigkeit Wege in die Welt zu bahnen: Das ist der Zweck, zu dem – wie wir mit dem Barmer Bekenntnis heute bekräftigt haben (vgl. Barmen 5 [EG 858, S.1379]) – Gott „in der noch nicht erlösten Welt“ den Staat und die Politik ihr Amt ausüben lässt.
Und es ist Grund und Anlass, dass wir in konstruktiver, wenngleich unabhängiger Weise den Anordnungen der Verantwortlichen, die dem Wohl der Menschengemeinschaft dienen, als christliche Gemeinde unsere Unterstützung, unsere tätige und geistige und nicht zuletzt unsere geistliche Kooperation schulden.
Im kleinen, aber unerschütterlich treuen Gebetskreis, den wir hier an der Stadtkirche haben, ist ein großer Beter, der - weil er selbst im öffentlichen Dienst bei der Polizei gestanden hat - so vollmächtig und kraftvoll bei Gott eintritt für alle Ämter und Einrichtungen, für alle berufenen und alle ehrenamtlichen Einsatzkräfte, die unserer Gesellschaft dienen, dass ich fest davon überzeugt bin, hier geschieht mehr politisch Sinnvolles als an vielen quasselnden, rhetorisch lautstarken, praktisch aber unverbindlichen und unnützen Stellen des säkularen Betriebs.
Aber auch wenn wir nur still beten für die Anliegen unserer Mitmenschen, … für die natürliche und die soziale Ordnung auf dieser Erde, … für die schicksalhaften Wahlen in Amerika, … für die Leidtragenden in Gaza, Israel und Libanon, … für den Frieden in der Ukraine, … für die verfolgten Christen in aller Herren Länder und für die freie Ausbreitung des Evangeliums, so ist das unser stärkster und nachhaltigster, unser entscheidendster und weltbewegender Beitrag zur Politik dieses Zeitalters!
Denn das letzte Wort lautet ja: „Es wird regiert!“[iii]
Mit diesem kindlichen Bekenntnis eines hochpolitischen Glaubens hat der greise Karl Barth am Vorabend seines Todes sich von seinem Freund Eduard Thurneysen verabschiedet.
Er hatte politisch eigensinnig, zwischen Widerstand und Versöhnung konstruktiv ein Leben lang der Herrschaft Gottes in der Christengemeinde und im ganz weltlichen Rahmen des Menschengeschlechts zu dienen versucht[iv].
Aber er wusste dennoch und zuletzt, dass die zählenden Taten, … die Wendungen, die notwendig sind, … die Pläne, die nicht aufzuhalten sein werden und die Entscheidungen, die bleiben, weil sie Heilsgedanken des Friedens, der Hoffnung und der Zukunft verwirk-lichen (vgl. Jer.29,11), von Gott stammen.
Er ist es, Der regiert!
Darum sei auch Ihm - dem König aller Könige und Herrn aller Herren, der allein gewaltig ist und unsterblich – allein Ehre und ewige Macht (vgl. 1.Tim.6,15f)[v]!
Amen.
[i] Nach wie vor erhellend und kritisch zugleich im Blick auf dieses Zentralmotiv der lutherischen Lehre in politicis ist: Ulrich Duchrow, Christenheit und Weltverantwortung - Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre, Stuttgart 19832.
[ii] Dieser Begriff hat eine – vielfach problematisierte, aber dennoch weiterhin erschließende – Funktion in der Ethik Dietrich Bonhoeffers; „Unter »Mandat« verstehen wir den konkreten, in der Christusoffenbarung begründeten und durch die Schrift bezeugten göttlichen Auftrag, die Ermächtigung und Legitimierung zur Ausrichtung eines bestimmten göttlichen Gebotes, die Verleihung göttlicher Autorität an eine irdische Instanz. Unter Mandat ist zugleich die Inanspruchnahme, die Beschlagnahmung und Gestaltung eines bestimmten irdischen Bereiches durch das göttliche Gebot zu verstehen. Der Träger des Mandats handelt in Stellvertretung, als Platzhalter des Auftraggebers. Recht verstanden wäre auch der Begriff der »Ordnung« hier verwendbar, nur daß ihm die Gefahr innewohnt, den Blick stärker auf das Zuständliche der Ordnung als auf die die Ordnung allein begründende göttliche Ermächtigung, Legitimierung Autorisierung zu richten, woraus dann allzu leicht die göttliche Sanktionierung aller überhaupt existierenden Ordnungen und damit ein romantischer Konservatismus folgt, der mit der christlichen Lehre von der 4 göttlichen Mandaten nichts mehr zu tun hat“ (D.Bonhoeffer, Abschnitt: Das konkrete Gebot und die göttlichen Mandate, in: ders., Ethik, hgg. v. I. und H.E. Tödt u.a. [DBW Bd. 6], München 1992,S.392f.) Die vier von Bonhoeffer erkannten und ausgelegten Mandate Gottes in der Welt sind Arbeit/Kultur, Ehe, Obrigkeit und Kirche.
[iii] Eberhard Busch weist zurecht daraufhin, dass dieser Satz, der gemeinhin als Barths letzter Ausspruch gewürdigt wird, ein Zitat von Christophe Blumhardt darstellt, vgl. Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, München 1986, S. 515.
[iv] Ohne Barths maßgeblichen und sein Lebenswerk charakterisierenden Gegenentwurf zur lutherischen Zweireichelehre auch nur im Umriss skizzieren zu können, sei doch verwiesen auf die leicht zugängliche Sammlung zweier seiner Grundtexte dazu: Karl Barth, Rechtfertigung und Recht (ursprüngl. 1938) + Christengemeinde und Bürgergemeinde (ursprüngl. 1946) , erschienen als: Theologische Studien, Bd.104, Zürich 19894. Dort heißt es: „Wo Bürgergemeinde, wo Staat ist, da haben wir es (…) nicht etwa mit einem Produkt der Sünde, sondern mit einer der Konstanten der göttlichen Vorsehung und Weltregierung in ihrer zugunsten der Menschen stattfindenden Gegenwirkung gegen die menschliche Sünde und also mit einem Instrument der göttlichen Gnade zu tun. Die Bürgergemeinde hat mit der Christengemeinde sowohl den Ursprung als auch das Zentrum gemeinsam. Sie ist Ordnung der göttlichen Gnade, sofern diese (…) immer auch Geduld ist. Sie ist das Zeichen dafür, daß auch die noch (oder schon wieder) der Sünde und also dem Zorn verfallene Menschheit in ihrer ganzen Unwissenheit und Lichtlosigkeit von Gott nicht verlassen, sondern bewahrt und gehalten ist. Sie dient ja dazu, den Menschen vor dem Einbruch des Chaos zu schützen und also ihm Zeit zu geben: Zeit für die Verkündigung des Evangeliums, Zeit zur Buße, Zeit zum Glauben. …… Sie (scil. die Bürgergemeinde / der Staat) hat also keine vom Reich Jesu Christi abstrahierte, eigengesetzlich begründete und sich auswirkende Existenz, sondern sie ist – außerhalb der Kirche, aber nicht außerhalb des Herrschaftskreises Jesu Christi – ein Exponent dieses seines Reiches. Sie gehört eben nach neutestamentlicher Erkenntnis zu den »Gewalten«, die in ihm geschaffen und durch ihn zusammengehalten sind (Kol.1,16f) (…). Gottesdienst ist also nach dem ausdrücklichen Apostelwort (Röm.13,4.6) auch das Handeln des Staates“ (aaO, S.54f). Diese christozentrische Sicht auf das Weltliche in seiner Christus untergeordneten Struktur und gerade als weltlicher darum auch autonomen Wirklichkeit ist und bleibt fundamental verschieden von der Sakralisierung des Staatlichen, wie sie etwa im byzantinischen Cäsaropapismus eine so unselige Geschichte und nun eine himmelschreiend perverse Gegenwart in der kyrill’schen After-Kirche in Putins Russland hat.
[v] Dies der Wochenspruch und das erkenntnisleitende Prinzip des gesamten Gottesdienstes am 23.Sonntag nach Trinitatis.
Reformationstag, 31.10.2024, Stadtkirche, Psalm 81,11, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 31.X.2024 – Reformationstag
500 Jahre evangelisches Gesangbuch (sog. Acht-Liederbuch von 1525) unter besonderer Berücksichtigung des Liedes „Inn Jhesus Namen wir heben an“[i] und Psalm 81,11
Liebe Gemeinde!
Heute sind es nicht die legendären Hammerschläge von vor 507 Jahren, die bis zu uns herüber hallen.
Es sind auch nicht die markigen oder giftigen Trutz- und Streitworte Luthers; es ist nicht einmal die für viele von uns unterbewusst stilbildende Sprachmelodie und Metrik der Lutherbibel.
Die Thesen und die Kämpfe von damals, die ursprünglich frisch aufblühende Wortschöpfung und Wortschönheit jener Zeit, die inzwischen oft so steif und staubig wirkt, die Schlachtrufe und Kernsprüche, die wir anachronistisch oder museal weiter pflegen: Das alles geht uns heute nicht unmittelbar an.
Sondern nur das eine Leitmotiv der Reformation: Ihr Gesang.
Denn auch wenn das brütende, betende Schweigen von Klosterzelle und Studierstube, … auch wenn der weitschweifig hohe Ton der Hoftage und Kanzleischreiben, … auch wenn das Rasseln und Krächzen der päpstlichen Erlasse, Bullen, Dekrete und Bannflüche, der polemischen Pamphlete, Flugschriften und Hetzblätter mit dem immer lauteren Klappern der Druckerpressen beider Seiten die Geräuschkulisse des 16.Jahrhunderts ausmachte, so ist das alles doch längst verstummt, verblasst und verweht.
Es ist still um die Sache des 16.Jahrhunderts geworden, die doch auch die Sache des 1. und des 4.Jahrhunderts, des 13. und sogar noch des 20.Jahrhunderts war. … Diese Sache, die da lautet: „Mensch und Gott“, „Gott und Mensch“.
Vielen heute scheinen sie nichts mehr sagen zu können: „Gott und Mensch“.
Der Mensch allein, der Mensch in seiner von Gott geschiedenen Einsamkeit ist sich zwar noch ein Thema. Aber alles Weitere – die Natur oder der Himmel oder das Herz oder die Anderen – ist nicht mehr wichtig.
Und Gott schon gleich gar nicht.
Nur mit und von sich selbst spricht der Mensch noch, … und damit es nicht allzu schaurig, allzu kafkaesk wird, wie da ein irres Selbstgespräch sich windet und verheddert, darum hat die Menschheit eine große Echokammer angelegt, in der alles, was sie jemals von sich gab, gespeichert, wiederholt und variiert wird und im Abgerufen-Werden dann die Illusion erweckt, ein Gegenüber rede zu den Menschen und es bringe Sinn und Ordnung und Einfälle und System in den ganzen Unsinn und Wortsalat, den sie um sich herum immer schon und immer gleich erzeug haben.
Die Maschine und ihre Intelligenz sind dem Menschen also geblieben.
Und darum erzieht die Maschine jetzt seine Kinder, pflegt bald seine Kranken, versieht die Alten demnächst mit dem, was da technisch noch sein muss und macht den Menschen zwischen dieser maschinell betriebenen Bildung und diesem programmiert begleiteten Sterben zufrieden und gefügig, indem sie ihn hübsch kriegen lässt, was er bestellt, sehen lässt, was ihm träumt, zu verstehen gibt, was er verstehen will und hören macht, was aus ihm selber hervor- und in Endlos-Schleife wieder zurück in sein geschlossenes System ohne anderen Ein- und Ausgang geht. —
Spricht aus dieser Schilderung des in sich verkrümmten Monologmenschen aber nur die zurückgebliebene oder überforderte oder furchtsame oder verächtliche Haltung dessen, der die Vorteile und Möglichkeiten der Menschenmaschine nicht kapiert oder nutzt? …
Nein. … Nicht nur.
Sondern aus solchem Schauder vor dem nur mit sich selbst brabbelnden Menschlein in dieser armen, tür- und fensterlosen Welt des materiellen Diesseits spricht eine andere Erfahrung: Das große, weite, befreite, wachsende, herrliche Staunen, das in der Reformation wie in jeder echt christlichen Erfahrung aufbricht und wächst.
Das Staunen und Jubeln darüber, dass wir nicht alleine sind. Dass wir nicht verschlossen und verbannt, nicht verlassen und verloren leben müssen, sondern dass wir im Gegenteil aufsehen und unsre Häupter erheben und dann sehen dürfen, wie die Erlösung, wie der Erlöser nahe (vgl. Lk.21,28), … wie Er ganz dicht bei uns in, „in unserm Mund und in unserm Herzen ist“ (5.Mose 30,14).
Diese aufsteigende, überwältigende Freude daran, dass Gott uns nahe sein will, dass wir nicht ohne Ihn und auch nicht von Ihm tief getrennt und weit entfernt, sondern wirklich mit Ihm leben dürfen, ist der Durchbruch, den wir heute feiern.
Und in der Reformation hat diese Begegnung des Menschen mit seinem treuen, gnädigen, erbarmenden, rechtfertigend-rettenden Gott eine ganz unmittelbare Gestalt angenommen, die auf der ersten, grundlegenden christlichen Glückserfahrungen der Gottesnähe aufsetzt.
Beide haben ein gemeinsames Motiv, … das bewegend unmittelbare Psalmwort (81,11), das über unserer Gesangsfeier heute steht: „Tu deinen Mund weit auf, lass mich ihn füllen.“
Christentum schenkt uns nichts anderes, als was wir im 5.Buch Mose von der Tora hören, … die Urerfahrung nämlich, Gott in den Mund nehmen zu dürfen, … und darin die erste und lebensnotwendige Erfahrung aller, die in die Welt kommen: Mit dem Mund ergreift schließlich das Neugeborene das Leben. Es öffnet seinen Mund und wird genährt.
Darum ist das Sakrament des Genährtwerdens, die Gnadengabe Gottes als unseres Lebensmittels das erste grundlegende und das bleibend größte Fest der Christenheit.
Sie feiert und sie lebt die Eucharistie: Das Wunder, Gott in den Mund und in ihr ganzes Dasein aufnehmen zu dürfen. Und in diesem Wunder die ganz unmittelbare, psycho-somatische Dankbarkeit dafür, durch nichts Geringeres als Gott leiblich und wirklich leben zu dürfen!
„Tu deinen Mund weit auf, lass mich ihn füllen!“ - Das ist pures Evangelium, wie es zu reiner Eucharistie wird. Gott schenkt sich uns konkret und speist unser Leben physisch und psychisch mit dem Glück, aus Ihm genährt, gestärkt und aufgebaut zu werden.
Das aber ist etwas, das die Maschine nicht kann: Sie kann nicht leiblich, sie kann nicht real genährt werden. Zwar stopfen wir sie virtuell voll und füttern sie abstrakt, aber nichts davon kann sie sich organisch aneignen. Die Maschine bleibt ein bloßer Speicher des ihr fremden Menschlichen.
Die Christen dagegen dürfen Gott direkt im Menschlichen aufnehmen: Er wird tatsächlich ihr Fleisch, Er wird ihr Brot und ihres Lebens Kraft. Gott wird ein Teil von ihnen und sie ein Teil von Ihm.
„Gott und Mensch“: Das ist das Thema!
Und auf diese eucharistische und aller Kirchentrennung vorangehende Tiefenerfahrung der leib-seelischen Gemeinsamkeit, der elementaren Kommunion zwischen Gott und Mensch antwortet die Reformation, indem sie auf die zweite, ganz charakteristische Weise Gott in den Mund nimmt!
Reformation ist zunächst tatsächlich ein großes, volkstümliches, menschenfreundliches Auffüllungsmanöver. Leere Speicher – um im durchgehenden Bild der Informationstechnik zu bleiben – werden überreich bestückt: Mann und Frau und Kind und Kegel sollen mit der Wortgestalt des Evangeliums, mit der Milch-und-Honig-und-Schwarzbrot-Kost der Schrift großzügig und großmütig ausgestattet werden. Beinah wie in den Kammern des weltweiten Gesamtgedächtnisses dürfen sich die Menschen des 16.Jahrhunderts die Herzkammern und die Echoräume ihres Unterbewussten vollladen mit Bibelschätzen und Trostsprüchen und Klarheitsbotschaften und Glaubenskernpunkten und Beweisstücken und Gewissheitsgründen.
Sie dürfen und sie sollen es alles in sich aufnehmen: Übersetzt, katechetisch geordnet, in Versform leicht zugänglich, in Bearbeitungen und in Auslegungen, in Sendschreiben und in Predigtpostillen für den Gebrauch und die Erbauung und die Rechenschaft und die mündige Vergewisserung aller Welt und aller Leute wird das Evangelium zum Allgemeingut, zum Volksgut, zum Menschheitserbe und zum ganz unmittelbaren, persönlichen, intim-individuellen Geist- und Seelenstoff der Menschen.
Davon legt das wunderbar umfangreiche, kraus-systematische, dogmatisch-praktische Lied, mit dessen Anfangsstrophen unser Gottesdienst heute anhob, Zeugnis ab. Enzyklopädisch und sehr genau sammelt es Belegstellen und fundamentale biblische Merk- und Lehrsätze zur paulinischen Botschaft von der Gerechtigkeit aus dem Glauben und erweitert diesen theoretischen Fundus des reformatorischen Verstehenshorizonts um ethische Grundsätze.
Rechtfertigung und Heiligung, das Vertrauen und das Verhalten, die aus dem Evangelium entstehen, verknüpft es und fasst beide - die Überzeugung und die Praxis der Reformation - zugleich anspruchsvoll wie bündig zusammen.
Solche Extrakte, solche Verdichtungen theologischer Erkenntnis, solche gemeinverständlichen Summen biblischer Theologie, solche gut zu memorierenden Zusammenfassungen dessen, was Luther und die Seinen entdeckten, was Kirche und Gesellschaft kontrovers aufrüttelte und schließlich umgreifend veränderte, sind die Lieder, die in den ersten Gesangbüchern der protestantischen Konfessionen ihren Siegeszug antreten sollten. Nachvollziehbar, volkssprachlich, mündig und seriös erschlossen sie der gesamten Öffentlichkeit den Zugang und die Teilnahme an den bewegenden Fragen und Antworten der erneuerungsbedürftigen und -bereiten Christenheit.
Darin haben die Lieder der beiden ersten Generationen der evangelischen Erneuerung beinah einen uns ganz informationstechnisch-zeitgenössisch anmutenden Charakter. Sie bündeln biblische Fakten und Texte, sie speichern geistliches Wissen, sie formulieren und komponieren kollektiv-kreative Gesamtlösungen seelischer Gegenwartsprobleme. …….
Das alles aber ist nur die pädagogisch-mediale Seite dessen, was wir im Gesangbuch als unser bestes, lebendigstes Erbe heute nach einem halben Jahrtausend bedenken und feiern.
Letztlich wäre es aber alles museal und konservatorisch, wenn es dabei bloß um den gespeicherten Gehalt dessen ginge, was wir „Choral“ nennen. Worum es bei den Chorälen aber tatsächlich viel, viel intensiver geht als um ihre theoretische Fracht, ist ihre praktische Gestalt. Auch sie gehorchen der Verheißung: „Tu deinen Mund weit auf, lass mich ihn füllen!“
Choräle sind das unverwechselbare zweite Ereignis, bei dem wir Gott in den Mund nehmen dürfen. In ihrem Gesang geschieht das lebendige und lebensnotwendige Echo auf die Eucharistie: Wer von Gottes Wirklichkeit zehren darf, soll Seine Wirklichkeit auch mehren! Die singende Gemeinde, … der Mund, der voll Rühmens ist, … die Männer-, Frauen und Kinderlippen, auf denen Bekenntnis und Lob liegen: Sie sind die organische und reale, die konkrete und leibliche Bestätigung und Bestärkung des Evangeliums.
Darum ist der Gesang der Reformation kein historisches Prunkstück unserer Vergangenheit, sondern die nötigste, überlebensnotwendigste Gestalt christlicher Gegenwart und Garantie christlicher Zukunft.
Wenn niemand mehr Gott in den Mund nimmt, … wenn von Ihm und Seiner Liebe, wenn von Seiner rettende Größe und Seiner wunderbaren Gnade nirgends mehr gesungen würde, dann wäre es darum geschehen, dann wäre es erledigt: Das Thema Gott und Mensch.
Denn so wahrhaftig Gott im Evangelium Wort und Fleisch wird und im Sakrament unser leibliches Leben, so wahrhaftig wird Er in unserem Gesang physisch unverwechselbare Gegenwart in einer abstrakt und virtuell entkörperten Welt.
Genauso wenig wie sie nämlich essen kann, kann die Maschine singen.
Sie kann nichts Fremdes wirklich in sich selber aufnehmen und sie kann ihm darum auch keine wirklich eigene Ausstrahlung, keine noch nie dagewesene Schwingung schenken. Sie kann nur mischen und wiedergeben.
… Dagegen der Mensch aus Leib und Seele nimmt Gott tatsächlich in sich auf und er gibt Ihm in seiner je eigenen Stimme einen je eigenen, einen einmaligen Klang. Wenn wir von Gott singen, dann hat es sich in allen Jahrmillionen und in allen Legionen der unsterblichen Engel noch nie so angehört, noch nie so zu hören gegeben wie gerade jetzt:
Mit dem, was in Deiner und in meiner Stimme – und das heißt ja auch in meiner und in Deiner Stimmung und Erfahrung und Lebenswirklichkeit – heute mitschwingt, ist noch niemals die Nähe Gottes oder die Dankbarkeit für Ihn oder das Glück oder das Leid, in die wir Ihn in unserem Dasein unlöslich einbezogen wissen dürfen, ausgedrückt worden.
Die Müdigkeit oder Brüchigkeit, der Glanz und die Kraft einer Stimme sind nie zweimal gleich. Der tiefe oder der gepresste Atem, die von Leid getönten oder von Freude glühenden Stimmfarben wechseln unerschöpflich, unnachahmlich, unwiederholbar.
Und so ist jedes Lied, jeder Choral aus jenen Büchern von vor einem halben Jahrtausend oder aus allen späteren, allen neuen, alle noch unerhörten Gesängen der Glaubenden ein einzigartiger Moment, in dem wir Gott in den Mund nehmen dürfen und in dem Er – der allein wahre, ewige, einzige Gott – neu und ursprünglich und unverwechselbar durch uns zur Welt kommt in einer Gestalt, die lebendig ist und weder aufbewahrt, noch vorweggenommen werden kann.
Darum heißt es nicht erst in reformatorischer Zeit, sondern seit dem Jubel der Engel als die Schöpfung begann, dass wir Gott ein neues Lied singen sollen und wollen (vgl. Psalm 33,3/ 40,4 / 96,1 / 98,1 / 144,9)!
Weil Er uns immer wieder und in end- und wiederholungsloser Neuigkeit und Treue den Mund mit sich selber füllen wird: Damit wir leben und die Welt durch uns mit Ihm lebendig durchdrungen wird!
Es ist also keine Feier des Alten und Geschichtlichen, sondern des Atems jetzt in diesem Augenblick und der unerschöpflichen Zukunft, wenn die Kirche Gottes Lob singt und dadurch das Ewige neu gegenwärtig wird.
Nehmen wir es also als rechtfertigende Gnade und als heiligen Auftrag wahr:
Wir sollen Gott in den Mund nehmen!
Durch Ihn leben, um Ihn zu loben!
Amen.
[i] Vgl. die 19 Strophen dieses anonym überlieferten Liedes unter https://de.wikisource.org/wiki/Inn_Jhesus_namen_heben_wir_an.
Michaelis, 29.09.2024, Stadtkirche, 4.Mose 22,31 - 35, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Michaelis - 29.IX.2024
4.Mose 22, 31 - 35
Liebe Gemeinde!
Gut und gern wäre heute über den sechsten Sinn in der Schöpfung, über das Gefühl der Kreatur, über die Wahrheit, wie nur die Natur sie wahrnimmt, zu sprechen. Gern und gut wäre heute also das Evangelium nach der Eselin zu predigen: Eine rauhe Stimme dieser Welt, die den Boten und die Botschaft der größeren und feineren Welt Gottes bekennt.
Aber bevor wir die hellhörige Aufmerksamkeit und nüchterne Demut der stockenden, bockenden Eselin preisen, die Bileam rettete (vgl.2.Petrus2,15f), den käuflichen Verflucher Israels, der im Auftrag der Moabiter das Volk des Exodus durch Bann und Zauber an seiner weiteren Wanderung hindern sollte, … bevor wir also das Lob des Langohrs singen, stimmen wir besser einen Klagegesang an auf uns Bileamiten.
… Uns, die weder sehen noch hören, weder bremsen noch umkehren, wo Cherubim und Seraphim, wo Throne und Herrschaften, Mächte, Gewalten und Fürstentümer, wo Erzengel und Engel unsern Weg säumen und unser Leben begleiten.
Reden wir also nicht von der gesegneten Eselin, sondern über uns.
Ganz praktisch:
Wer kennt den Namen des Briefträgers? Wer dankt dem Busfahrer? Wer bemerkt, dass geputzt wurde und dass sie in der Notrufzentrale die ganze Nacht über gewacht haben? Wer weiß Näheres über die Lebensgeschichte und die Lebensträume der 24-Stunden-Pflegekraft, die im Elternhaus mehr ersetzt, als man selbst hätte leisten können? Wer sieht noch das Gesicht der Hebamme, die damals die eigenen Kinder zu entbinden half? Wer ahnt heute schon, wer’s sein mag, der uns einmal waschen und einsargen wird, wenn wir gestorben sind?
Wir leben so blick- und wortlos inmitten der Hilfe, die uns umgibt.
Tausende Hände und Augen, tausende Dienste und Taten gelten uns – von der kleinen Teepflückerin im Himalaya bis zu den bald fast 5000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr Brigade in Litauen –, und wir scheren uns nicht drum.
Dank- und grußlos lassen wir uns schützen und erhalten.
Und haben dabei eine Kultur der Unzufriedenheit, des schamlosen Anspruchs und der ausbeuterischen Selbstverständlichkeit entwickelt, dass es zum Fürchten ist.
Wir sind eine Gesellschaft der Angewiesenen geworden, die sich selbst nicht Rechenschaft darüber gibt, wie sie an keiner Stelle aus eigenen Kräften, sondern allein dank fremder Hilfe lebt: Erziehung und Pflege, Hüten und Heilen erwarten wir anonym und billig, obwohl sie das Kostbarste und Heiligste betreffen.
… Kein Wunder also, dass wir Niedergang erleben.
… Die Bibel weiß darum, dass das ein Gericht ist.
Und kein Wunder, sondern das klarste Symptom, dass auch unsere Kirche und d.h. ja wir selbst so ganz und gar vergessen haben, ja bestreiten wollen, wie sehr auch wir als Glaubende und im Glauben auf andere Dienste und die Unterstützung Dritter angewiesen sind! … Glaube als Privatangelegenheit?! … Gott als individuelle Meinungssache?! …
Die selbstherrliche Arroganz, dass wir in solchem allen unabhängig und Alleinversorger seien, ist ein lächerlicher Ausdruck unserer kollektiv bloß vorgetäuschten Selbständigkeit.
Wir allen säßen nicht hier, wir würden nicht essen oder trinken, nicht atmen und singen, nicht beten noch fühlen, wenn wir nicht bei Tag und Nacht, als Säugling ebenso wie auf dem Sterbebett, in aller Not und aller Gewöhnlichkeit treu und still umgeben wären, … behütet und getröstet wunderbar (vgl. EG 65,1).
Wir leben davon, dass wir Schutzengel haben (vgl. Matth.18,10) und dass Gottes Dienstengel (vgl.Ps.103,20f) zwischen Seinem und unserm Dasein, zwischen Gebeten und Geboten, zwischen uns Fraglichen und Fragwürdigen und Dem, Der auf alle Wahrheit und Lüge und jeden Zweifel und Zorn und auch auf unser Schweigen die einzige Antwort ist, unablässig hin- und her vermitteln.
Wir sind frei, aber nicht uns selbst überlassen.
Unsere Existenz ist nicht haltlos - selbst im Fall -, sondern in tieferer Tiefe umfangen und an höhere Höhen geknüpft, als wir ahnen.
Boten und Wächter, Zeugen für Gottes Herrlichkeit und Beistände in unserer Niedrigkeit sind unsichtbar, unzählbar, unerschöpflich um uns herum.
Sie erfüllen nicht etwa alle unsere Wünsche, aber unfehlbar den zuletzt heilsamen Willen Dessen, Der uns liebt.
Denn sie bringen uns Seinen Segen: Die Abrahamserfahrung (vgl.1.Mose18).
Sie führen uns zu unserm Glück und Ziel: Die Isaakserfahrung (vgl.1.Mose24,7+40).
Sie erfüllen auch die Trostlosigkeit unserer Durststrecken und Sorgennächte: Die Jakobserfahrung (vgl. 1.Mose28).
Sie geleiten uns noch auf unseren überstürztesten, improvisierten, irrenden Lebenswegen: Die Moseserfahrung (vgl.2.Mose14,19).
Sie strafen unsern Übermut und lenken uns zur Umkehr: Die Davidserfahrung (vgl. 2.Samuel24,16ff).
Sie schenken den Erschöpften Kräfte: Die Eliaerfahrung (vgl.1.Könige19,5ff).
Sie rüsten unsre Schwachheit mit ihrer flammenden Klarheit aus: Die Jesajaerfahrung (vgl.Jes.6).
Sie stehen uns bei in letzter Bedrängnis: Die Danielerfahrung (vgl.Dan.6,23).
Sie überwinden Zwang und Hindernisse vor uns und versetzen uns in Freiheit: Die Petruserfahrung (vgl.Apg.12,7ff).
Sie trösten Jesus in Seiner blutigen Not (vgl.Lk.22,43), und ohne sie wären Sein Leben, Seine Auferstehung und Erhöhung niemals verkündet und geglaubt worden: Die Mariaerfahrung (vgl.Lk.1,26ff), die Magdalenaerfahrung (vgl.Matth.28), die Apostelerfahrung (vgl.Apg.1,10f).
Und so geleiten und hüten sie uns nicht nur immer schon und jetzt, sondern sie stehen uns allen auch bevor, wenn sie uns einst entweder in Abrahams Schoß tragen (vgl.Lk.16,22) oder die letzte Posaune, das Ende des Vergehenden, den Anbruch des Reiches und damit das große, endgültige Zurechtbringen der ganzen Welt einläuten werden (vgl.1.Thess.4,16; Matth.25,31; Dan.12,1ff; Offenb.12,7ff; 16; 18,21ff; 19,17ff; Heb.12,22).
Diese kurze Skizze der biblischen Engelfülle vom verwirkten Paradies am Anfang, über das sie wachen (vgl.1.Mose3,24), bis zum neuen Paradies am Ziel, das sie offen halten werden (vgl.Offenb.21,12), soll uns zeigen, dass die Himmelsboten und -kräfte weder in den kindlichen Volks- und Aberglauben, noch in die pantschende Esoterik gehören, sondern in unser Leben und Bekenntnis, … und es wäre gewagt, aber wichtig deshalb auch zu sagen: Die Engel gehören in unser Weltbild als persönliche, konstante Präsenz, als konkrete, treue Gegenwart der Macht und Liebe Gottes. ——
Wichtig und gut wäre das, und gut und gern könnte man dann über die Engel und uns nachdenken.
… Aber leider sind wir Bileamiten. Keine Esel.
Hätten wir die lauschenden Langohren, … witterten wir, statt immer zu wissen, … läge uns störrische Demut und nicht der eigentlich so unsichere demonstrative Stolz im Wesen: Dann wäre es gut mit den Engeln und mit uns.
In Wahrheit aber ist es oft ganz furchtbar. Denn wir reiten durch alle Engel, die sich zu unserm Schutz um uns lagern (vgl.Ps.34,8), hindurch wie Attilas Hunnen. Wir trampeln die Heerscharen des Himmels nieder; wir walzen die Mächte und Gewalten platt, die durch ihr Hüten und Wirken das Weltgebäude doch im Lot und Gleichgewicht halten sollen.
Denn davon spricht ja die natürlich hochpolitische Geschichte Bileams, seiner Eselin und des Engels. Wie alles, was die Bibel enthält, die das Manifest der Gottesherrschaft in der Freiheit Seiner Kinder und der Friedensplan des Höchsten ist, … wie alles also, was die Bibel enthält, ist die Geschichte Bileams, den die Feinde Israels als Stimmungsmacher gegen das Volk Gottes, als Blender und Herabwürdiger Seines in die Zukunft aufgebrochenen Sklavenhaufens gedungen hatten, hochpolitisch. So hochpolitisch wie es natürlich auch die himmlischen Heerscharen, die „Zebaoth“ - also die Sanitäts- und Solidaritäts- und Rettungs- und Eingreiftruppen - des HERRN sind und so hochpolitisch allen voran Michael ist, der stärkste und entscheidende Anti-Satans-Aufklärer und -Kämpfer, den wir heute besonders feiern.
Michael und sämtliche Kräfte Gottes – die Engelscharen, in denen alle Macht im Himmel und Erden für das, was Gott geschaffen hat und gegen den Feind des Lebens, der Gerechtigkeit und der Liebe sich verbünden – sind unsre größte, unsre letzte und unsre allesentscheidende Hoffnung in diesen Zeiten der Verwerfung, der Verzweiflung und der entfesselten Vernichtung.
Wäre der Kampf – der gute Kampf, den es zu kämpfen gilt (vgl.1.Tim.6,12), der Kampf für das Evangelium des Friedens, der mit dem Schild des Glaubens, dem Helm des Heils und dem Schwert des Geistes zu führen bleibt (vgl.Eph.6,13ff) – nur Menschenwerk, … stellte er uns bloß vor die Alternative der neuen Putin’schen Atomkriegsstrategie und der notwendig militärischen Verteidigung gegen das wilde Wolfsrecht, … ließe er uns nur zerrissen zwischen dem teuflischen Terror der Hamas und Irans gegen Israel und Israels unerträglichem Anti-Terror-Terror, … wäre also das, was wir auf der Weltbühne mit Entsetzen sehen und entsetzlicherweise nicht hindern können, einfach alles, dann wäre alles verloren.
Nun aber ist Gottes Kampf, der Michaelskampf gegen den Drachen (vgl.Offenb.12,7f/Judas V.9!) und in ihm gegen die Gottesfeindschaft des brüllenden Teufels (vgl.1.Petrus5,8), gegen die eiskalte Teilnahmslosigkeit der Menschheit (vgl.Matth.24,38) und gegen den erbarmungslos ausnahmslosen Gottes- und Menschenfeind Tod (vgl.1.Kor15,26) wahrhaftig die zentrale Hoffnung unserer Tage!
Weil es aber tatsächlich ein Kampf der Hoffnung ist, ein Kampf für das Leben, ein Kampf, der auf Gottes Seite geführt wird und der uns fordert, uns zu stellen und einzureihen, darum müssen wir wählen: Entweder wir sprechen wie in den Tagen des Jesaja die Bürger Jerusalems „Wir haben mit dem Tod einen Bund geschlossen und mit dem Totenreich einen Vertrag gemacht. Wenn die brausende Flut daherfährt, wird sie uns nicht treffen; denn wir haben Lüge zu unsrer Zuflucht und Trug zu unserm Schutz gemacht“ (Jes.28,15) – Sätze, die als der Kommentar des Heiligen Geistes zu unserm Heute zu verstehen sind – oder wir lösen uns aus unseren erklärten und verschwiegenen Todesbündnissen und folgen den Boten Gottes.
Das aber ist schwer.
Doch zum dritten und letzten Mal kommen wir nun an den Engpass des Bileam. Bileam, der seine Eselin zwingen wollte, genauso wie wir gegen alle Warnzeichen einfach unbeirrbar weiterzustreben, musste schließlich absteigen und umkehren.
Weil ein Engel ihm den Weg verstellte.
So wie sich die Engel Gottes auch gegen unsere selbstmörderische Denk- und Lebensrichtung stemmen. So wie sie sich gegen uns lagern, … als Wegelagerer an unseren Wegrand lagern, … als Gegenlager gegen unsere Geschwindigkeit der Selbstzerstörung sperren, … als heilige „Hinderer“ wie Martin Buber hier übersetzt, … als allzu oft unsichtbarer, aber doch ernster und eindeutiger Widerstand gegen so vieles, das wir verfolgen und nicht lassen können.
Und jeder merkt, wie hier das Hochpolitische höchstpersönlich wird.
Weil jeder von uns weiß, wie oft wir gegen den Engel, den der HERR uns als Hinderer schickt, brutal und stumpf zugleich vorgehen: Wir machen weiter, obwohl unser Weg ins Verderben führt. Wir halten nicht ein, obwohl wir sündigen und schuldig werden. Wir bremsen nicht, wir werden nicht langsamer, wir kehren nicht um.
Da muss gar nicht das Bild von den mittlerweile wieder entmutigten oder radikalisierten jungen Leuten beschworen werden, die sich auf die Straße und die Rollbahn klebten.
Da muss sich jeder von uns nur auf jedem Weg, bei allem Tun und wenig Lassen vor Augen halten, dass wir die Engel niedertrampeln, die uns vor der Gier und vor der Selbstsucht, vor der Hartherzigkeit und vor der Kurzsicht, vor der Lüge und vor der Selbsttäuschung bewahren wollen.
Jedes Mal, wenn wir gegen die Moral und unser Gewissen verstoßen, … jedes Mal, wenn wir gegen klare Einsicht bloß aus dem Geist der Trägheit handeln, … jedes Mal, wenn wir die Gelegenheit zu Vernunft und Verzicht aus Gedankenlosigkeit ausschlagen, … jedes Mal, wenn wir einfach weitermachen und die schwierigere Änderung im Kleinen oder Großen meiden, … jedes Mal kränken, missachten, verstoßen und verletzen wir den Engel, der unser Begleiter ist.
Und darum können wir nur hoffen – und weil es um den Kampf der Hoffnung geht, auch dafür kämpfen –, dass wir den feinfühligen Esel in uns spüren, der bockt, wenn wir den eignen groben Willen durchsetzen wollen und der die heilige Scheu und kreatürliche Ehrfurcht vor den Engeln, den Zeugen und Boten und Dienern Gottes auf unserm Weg und in unserem Herzen hat.
Die, die wir heute feiern, … die, die uns täglich treu und still umgeben und heilsam hartnäckig hindern und wunderbar bergen, die wollen wir ehren, indem wir uns mit Luthers Morgensegen jetzt und immer wieder wappnen gegen den Eigensinn und Hochmut des autonomen Egoisten und stattdessen an der Seite der Eselin und des beschämten Bileam, der so blind war wie wir, beten (vgl. EG 863):
„Himmlischer Vater, durch Deinen lieben Sohn bitte ich Dich, Du wollest mich behüten vor Sünden und allem Übel, dass dir all mein Tun und Leben gefalle.
Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in Deine Hände.
Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde!“
Amen.
Veranstaltungskalender
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